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Machterhalt mit allen Mitteln

Im kommenden Jahr stehen in der Türkei die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Wenn Recep Tayyip Erdoğan gewinnt, wird sich das Land wohl weiter zu einer islamischen Autokratie entwickeln

Ab­geschnittene Haar­strähnen in Istanbul am 2. Oktober: Ein Symbol der Solidarität mit den Frauen­protesten im Iran Foto: Emrah Gurel/ap

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Der Zeitpunkt hätte unglück­licher nicht sein ­können. Während im ­benachbarten Iran seit vier ­Wochen Frauen auf die Straße gehen, sich den Schleier vom Kopf reißen und öffentlich verbrennen, schlug der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu vor wenigen Tagen vor, das Kopftuch im gesamten öffentlichen Dienst, also auch für Lehrerinnen, Richterinnen und alle anderen Berufsgruppen, freizugeben. Jede Frau soll sich verhüllen dürfen, Kılıçdaroğlu will das per Gesetz festlegen.

In seiner Partei, der Republikanischen Volkspartei CHP, grummelte es vernehmlich, schließlich gehörte es jahrzehntelang zur DNA der CHP, gegen das Kopftuch im öffentlichen Dienst zu kämpfen. Doch nicht nur die innerparteiliche Kritik an seinem Vorstoß ließ den Parteichef schlecht aussehen, Präsident Recep Tayyip Erdoğan, sein langjähriger Gegenspieler, drehte Kılıçdaroğlu geradezu einen Strick aus seinem Gesetzesvorschlag.

„Kılıçdaroğlu hat uns eine Vorlage gegeben, wir werden ein Tor daraus machen“, versprach der Präsident seinen Anhängern. Seine Antwort auf Kılıçdaroğlu: Ein neues Gesetz brauchen wir nicht, denn für die Kopftuchfreiheit haben wir, die regierende AKP, ja längst gesorgt. Aber wenn Kılıçdaroğlu es ernst meint, soll die CHP einer Verfassungsänderung zustimmen, um die Kopftuchfreiheit ein für alle Mal in der Verfassung abzusichern. Einer solchen Verfassungsänderung kann und will Kılıçdaroğlu aber nicht zustimmen, weshalb Erdoğan ihn nun als den Mann vorführen kann, der nur für die kommende Wahl in religiösen Kreisen nach Wählern fischen will.

Mit dem Ende der parlamentarischen Sommerpause hat in der Türkei der Wahlkampf für die Präsidentschafts- und Parlamentswahl im kommenden Juni begonnen. Diese hat eine strategische Bedeutung, die weit über die kommende Legislaturperiode hinausgeht. Gewinnt Erdoğan nach 20 Jahren an der Macht noch einmal die Wahl, dürfte die letzte Gelegenheit, seine islamisch untermauerte Autokratie an der Wahlurne zu beenden, vorbei sein. Nicht ohne Grund gaben zuletzt bei einer Anfang Oktober veröffentlichten Meinungsumfrage des seriösen Instituts „Metropol“ 84 Prozent der sich selbst als säkular bezeichnenden BürgerInnen an, sie fühlten sich in ihrem Lebensstil bedroht. Gewinnt Erdoğan noch einmal, ist es mit der säkularen Demokratie in der Türkei wohl endgültig vorbei. Und das gerade jetzt, wo im Iran die Bevölkerung gegen die Mullahdiktatur auf die Straße geht.

Noch vor einem Jahr sah die Opposition wie der sichere Sieger aus. Die Wirtschaftskrise in der Türkei hatte sich während der Pandemie voll entfaltet, der Wert der türkischen Lira hatte sich gegenüber Dollar und Euro halbiert und die Preise für Lebensmittel und Benzin schossen in die Höhe. Als die jährliche Inflation auf mehr als 80 Prozent kletterte, gingen die Umfragewerte für Erdoğan und seine Parteienallianz von AKP und MHP in den Keller. „Wäre vor einem Jahr gewählt worden, hätte Erdoğan ohne Wahlbetrug keine Chance mehr gehabt“, ist sich der türkische Journalist der Oppositionszeitung Birgün, Mehmet A. sicher. „Heute sieht es dagegen schon wieder ganz anders aus.“ Erstmals seit Langem lag die Parteienallianz von Erdoğans islamisch-konservativer AKP und der rechtsradikalen MHP bei der erwähnten Metropol-Umfrage vom 1. Oktober wieder knapp vor der Oppositionsallianz aus der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP und der rechtsnationalen IYI Parti. Zwar hat die Opposition mittlerweile ein Wahlbündnis von sechs Parteien gegründet, deren gemeinsames Ziel es ist, Erdoğan zu entmachten und die Präsidialdiktatur per erneuter Verfassungsänderung wieder in eine parlamentarische Demokratie zurückzuführen, doch von den sechs Parteien kommen wahrscheinlich nur die CHP und die IYI Parti über die Sieben-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament.

Ob die Opposition eine Chance hat, wird wohl vor allem davon abhängen, wen sie als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten nominiert. Bislang hat sich einzig CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu dazu öffentlich bereit erklärt. Doch die anderen Parteien zögern zu Recht, ihn zu nominieren. Er hat schon mehrmals gegen Erdoğan verloren und hätte auch jetzt kaum eine Chance. Der Grund dafür ist simpel: Kılıçdaroğlu gehört zur religiösen Minderheit der Aleviten, kaum ein sunnitischer Muslim würde ihn wählen. Viel besser wäre der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu, der Erdoğans Partei schon bei den Kommunalwahlen 2019 geschlagen hat. Imamoglu ist ein hervorragender Wahlkämpfer und nicht nur für die Kern­klientel der CHP, sondern sowohl für gläubige Muslime wie für die Kurden eine gute Alternative. Um eine Chance zu haben, braucht die Opposition sowohl religiöse WählerInnen als auch die Unterstützung der Kurdenpartei HDP. Die kurdisch-linke „Partei der Völker“ HDP gehört zwar formal nicht zur Oppositionsallianz, hat aber bei den Kommunalwahlen in Istanbul auf einen eigenen Kandidaten verzichtet und stillschweigend Imamoğlu unterstützt.

84 Prozent der säkularen BürgerInnen fühlen sich in ihrem Lebensstil bedroht

Doch Erdoğan hat vorgesorgt. Sowohl gegen Imamoglu wie auch gegen die HDP hat er die Justiz vorgeschickt. Gegen die HDP läuft vor dem Verfassungsgericht ein Parteienverbotsverfahren und gegen Imamoglu wurde ein absurdes Verfahren wegen angeblicher Beleidigung der staatlichen Wahlkommission angestrengt. Im November könnte Imamoglu verurteilt werden und wäre damit für die Wahl aus dem Rennen, und auch das Verfahren ­gegen die HDP könnte noch in diesem Jahr mit einem Parteiverbot enden.

Mit einem neuen Zensurgesetz, das derzeit im Parlament beraten wird, will Erdoğan auch die letzte Kritik, die noch in den sozialen Medien möglich ist, unterdrücken. Während die HDP bereits als Ersatz eine Partei „Grüne Linke“ vorbereitet hat, käme als Präsidentschaftskandidat für die gemeinsame Opposition noch der Oberbürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, oder ein unabhängiger Intellektueller in Frage. Beides wäre wohl weniger erfolg­versprechend als Ekrem ­Imamoğlu.

Unterdessen hat Erdoğan sich vor allem durch sein geschicktes Taktieren angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wieder in der Wählergunst hochgearbeitet. Zwar geht es den meisten Menschen in der Türkei wirtschaftlich immer noch sehr schlecht, doch im Vergleich mit Europa steht die ­Türkei plötzlich nicht mehr so übel da. Als Erdoğan vom erweiterten EU-Treffen in Prag zurückkam tönte er, alle hätten Angst vor dem kommenden Winter, nur die TürkInnen müssten sich keine Sorgen machen. Dank billiger Lieferungen aus Russland sei nicht nur genug Öl und Gas da, die Preise könnten sogar sinken. Ein früherer CHP-Abgeordneter, Mehmet Ali Çelebi, der in diesen Tagen zu Erdoğans AKP übergelaufen ist, brachte eine weit verbreitete Stimmung auf den Punkt: „In diesen Zeiten, in der die Welt auf große Krisen zusteuert, brauchen wir eine starke erfahrene Führung. Eine wackelige Sechs-Parteien-Allianz können wir uns an der Regierung nicht erlauben.“