Ukrai­ne­r*in­nen in Privatunterkünften: Immer noch prekäres Wohnen

Eine Million Ukrai­ne­r*in­nen flüchteten bisher nach Deutschland, viele sind weiter privat untergebracht. Drei Protokolle über Hilfe und Herausforderung.

Plakatt Fluechtlinge

Besucher gehen an einem Hinweisschild der Initiative Ukrainian Coordination Center (UCC) vorbei Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

BERLIN taz | Es sind gut eine Million Geflüchtete aus der Ukraine, die seit Beginn des russischen Kriegs nach Deutschland gekommen sind, jedenfalls nach Meldungen im Ausländerzentralregister. Allein in Berlin stellten 80.000 von ihnen Anträge auf einen Aufenthaltstitel. Und es waren anfangs vielfach Privathaushalte, die die Geflüchteten bei sich aufnahmen – und es bis heute tun. Die Übergangslösung wird zur Dauerlösung, mit Herausforderungen auf allen Seiten.

Dass das kein Optimalzustand ist, räumt Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) offen ein. „Wir haben in Berlin eine enorme, also eine richtig große Platznot. Das will ich in aller Deutlichkeit sagen“, sagte sie der taz. Die Plätze in den öffentlichen Einrichtungen, etwa im Ankunftszentrum in Reinickendorf, reichten nicht aus. Und das Problem hat nicht nur Berlin.

Der Staat bleibt so auf die private Hilfsbereitschaft angewiesen. Und die hat laut einer aktuellen Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) zuletzt zwar leicht abgenommen, bleibt aber auf hohem Niveau. 47 Prozent der Befragten denken weiter darüber nach, sich ehrenamtlich zu engagieren. Und 17 Prozent sind bereit, ukrainische Geflüchtete vorübergehend privat aufzunehmen. Am Donnerstag will Dezim eine weitere Umfrage zusammen mit dem Onlineportal „Unterkunft Ukraine“ veröffentlichen. Auch hier lässt sich die Hilfsbereitschaft ablesen: Allein das Portal vermittelte bis September bundesweit 45.000 private Aufnahmen.

Vereine kritisieren Unterbringung

In Berlin berichtet eine ehrenamtliche Mitarbeiterin des Vereins „Schöneberg hilft“, dass die meisten Ukrai­ne­r*in­nen, die privat untergebracht sind, kein eigenes Zimmer hätten, sondern auf Sofas in Wohnzimmern schliefen. Die Situation sei „absolut unselbstständig“ und eigentlich rechtswidrig. „Die Ämter stellen die Ohren auf stumm, wenn es um die Mietkostenübernahme geht.“ Das belaste die Gast­ge­be­r:in­nen unnötig finanziell und löse bei vielen Ukrai­ne­r:in­nen Schuldgefühle aus, weil sie keine Miete zahlen können.

Auch Diana Henniges vom Verein „Moabit hilft“ berichtet, dass viele private Gast­ge­be­r:in­nen die emotionale und finanzielle Mehrbelastung unterschätzt hätten. Unterschiedliche Essgewohnheiten, Lebensrhythmen und Hygienevorstellungen träfen aufeinander. Sprachbarrieren erschwerten die Kommunikation. Hinzu komme die psychische Belastung, unter der viele aus dem Krieg Geflohene leiden. Die meisten Gast­ge­be­r:in­nen wollten ihren Wohnraum auch nur kurzzeitig zur Verfügung stellen. Aufgrund der fehlenden staatlichen Angebote sähen sie sich aber unter Druck gesetzt, das Engagement fortzusetzen, so Henniges.

„Es ist eine krasse Leistung, den privaten Wohnraum auf Dauer freizugeben. Das ist nicht zumutbar“, findet Henniges. Die Landesregierung muss sich schnell um eine langfristige Lösung kümmern. „Die Stadt war unfassbar solidarisch. Davor muss ich meinen Hut ziehen. Aber das Land ruht sich auf dieser Solidität aus.“

Kipping verweist auf ihre Bemühungen. „Wir alle, das Land Berlin und die Bezirke, sind in der Pflicht, überall zu schauen, wo man noch Unterkünfte und Plätze schaffen kann.“ Generell gebe es aber kaum noch freie Unterbringungsplätze.

Schon im Juli trat in Berlin deshalb erstmals ein Notfallplan in Kraft. „Wenn alle bisher geplanten Akquisen und Anmietungen klappen und wenn die Ankunftszahlen nicht steigen – ich gehe eher von einem Anstieg aus –, werden wir zum Jahresende ein Defizit von 3.000 Plätzen haben“, so Kipping. Die Linken-Politikerin appelliert auch an die Geflüchteten, Ausschau in anderen Bundesländern zu halten. „Das Wichtigste ist, sich ehrlich die Karten zu legen. Jeder und jede, der oder die in Berlin bleiben will, wird es in Berlin schwerer als in so manchem Flächenland haben, eine Wohnung zu finden.“

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„Sie können ja nichts für ihre Situation“

Familie Böhm hat Anfang April kurzentschlossen eine Mutter mit zwei Kindern bei sich aufgenommen. Die drei Ukrai­ne­r:in­nen sind vor den russischen Angriffen auf ihren Heimatort Charkiw nach Berlin geflohen. Für den Familienvater Timm Böhm war es eine Selbstverständlichkeit, Geflüchtete bei sich aufzunehmen. „Drei meiner Großeltern waren auch Flüchtlinge. Hätte es da nicht Menschen gegeben, die mit Essen und Unterkunft geholfen haben, dann gäbe es mich heute nicht“, erläutert der Unternehmensberater die Motivation, seinen Wohnraum mit Geflüchteten aus der Ukraine zu teilen.

Katja und ihre zwei Kinder haben im Haus der Familie Böhm ein eigenes Schlafzimmer. Beim Einzug der Familie wurden Schränke und ein eigener Kühlschrank für die Ukrai­ne­r:in­nen besorgt. Wohnzimmer und Garten werden geteilt.

Die Sprachbarriere stelle eine besondere Schwierigkeit für das Zusammenleben dar. Kulturelle Differenzen spielen auch eine Rolle, erklärt Herr Böhm. Unterschiedliche Vorstellungen von Hygiene und Kindererziehung treffen da aufeinander, wo Lösungen, mit denen sich alle Mit­be­woh­ne­r:in­nen wohlfühlen, gefunden werden müssen. „Ich weiß nicht, was falsch oder richtig ist, aber es ist halt anders“, meint Herr Böhm. Die Gast­ge­be­r:in­nen sprechen Konfliktthemen sofort offen mit den Gästen an. Das sei wichtig für ein langfristiges Zusammenleben, aber mitunter auch anstrengend.

Katja leidet unter den Folgen eines Schlaganfalls und ihr Sohn hat wohl eine posttraumatische Belastungsstörung. Die zerstörerischen Folgen seines aggressiven Verhaltens haben die ersten zwei Monatszahlungen des Jobcenters gekostet, berichtet Herr Böhm. Aber die Gast­ge­be­r:in­nen sind verständnisvoll. „Sie können ja nichts für die Situation. Man kann ihnen keinen Vorwurf machen, aber das heißt nicht, dass es nicht nervt“, so der Gastgeber.

Herr Böhm hat Kindergeld für die Familie beantragt, Arzttermine organisiert und begleitet und eine Unterbringung in einer nahegelegenen Schule beziehungsweise Kita für die Kinder gefunden. Der Unternehmensberater telefoniert im Auto mit Behörden und Ärzten und schreibt auf Rastplätzen schnell E-Mails. Er legt seine beruflichen Termine so, dass er die Familie zum Beispiel zum Jobcenter begleiten kann. Aufgrund des Engagements ihres Gastgebers erhalten Katja und ihre Kinder bereits Leistungen vom Jobcenter.

Es gab auch ein Jobangebot für die Ukrainerin. Aber, wer als in den Arbeitsmarkt integriert gilt, der:­die hat keinen rechtlichen Anspruch auf einen Sprachkurs mehr. Deswegen wurde das Jobangebot abgelehnt und Katja bezieht vorerst Hartz IV und lernt Deutsch. Alles in allem sei es sehr kostenintensiv und zeitaufwendig, so die Erfahrung von Familie Böhm. Aber trotz der Sprachbarriere, der kulturellen Differenzen und des bürokratischen Aufwands erfreut sich Böhm an dem Zusammenleben.

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„Leider keine angenehme Erfahrung“

„Es war nicht ganz so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben“, muss Joachim Meyer zugeben. Seine Frau und er haben Ende Februar das freie Zimmer in ihrer Wohnung einem Geflüchteten aus der Ukraine zur Verfügung gestellt.

Das Ehepaar hatte ihre Bereitschaft auf der Website einer privaten Hilfsorganisation registriert. Kurze Zeit später wurden die Meyers um 3 Uhr nachts angerufen und gefragt, ob sie jemanden aufnehmen können. Eigentlich wollten sie eine Frau, vielleicht mit einem Kind, aufnehmen. In der Nacht wurde eine Unterkunft für einen alleinstehenden blinden Mann gesucht. Spontan sagten die Meyers zu. Die Freiwilligen, die die Unterkunftsvermittlung organisiert haben, brachten den Mann noch in derselben Nacht zu den Meyers.

„Wir haben ihn als Familienmitglied aufgenommen“, berichtet Joachim Meyer. Sie haben gemeinsam gegessen und sich viel unterhalten. In ihrer Freizeit haben die Meyers ihren Gast bei Arztbesuchen und Behördengängen unterstützt und das Zusammenleben organisiert. Das Privatleben des Ehepaars blieb dabei etwas auf der Strecke, erzählt der IT-Berater.

„Leider war es keine angenehme Erfahrung“, reflektiert Herr Meyer das Zusammenleben. Der Ukrainer hatte psychische Probleme, war sehr aggressiv und hatte Schwierigkeiten, mit der eigenen Blindheit umzugehen. So die Schilderung des Gastgebers. Immer wieder hat er sich schwere Platzwunden zugezogen, weil er in der unbekannten Wohnung gegen Türklinken und Möbelecken stieß. Hilfsangebote der Meyers lehnte ihr Gast ab.

„Es wurde von Tag zu Tag schlimmer“, erzählt Herr Meyer. Eines Tages drohte der Gast mit Selbstmord, weil es nicht so lief, wie er es erwartet hatte. Da haben die Meyers gemerkt, dass ein sicheres Zusammenleben nicht mehr möglich ist. Sie riefen bei der Hilfsorganisation an, die ihnen den Kontakt vermittelt hatte. Die haben die Abholung und eine alternative Unterbringung des Mannes organisiert. Insgesamt hat der Ukrainer eine Woche bei den Meyers gelebt.

„Man sollte da nicht blauäugig rangehen“, rät Herr Meyer. „So eine Aufnahme und Betreuung ist ganz schön anstrengend.“ Er meint, dass jemand, der:­die so was macht, sich sehr gut überlegen solle, ob er:­sie sich das finanziell und zeitlich leisten kann.

Trotz der schwierigen Erfahrung würden die Meyers noch mal Menschen aus der Ukraine bei sich aufnehmen. „Allerdings diesmal wirklich nur eine Frau mit ein bis zwei Kindern und auch nur für eine begrenzte Zeit.“ Ihre Bereitschaft haben die Meyers auch den zuständigen öffentlichen Stellen ihrer Kommune über eine Website mitgeteilt. „Von denen haben wir nicht einmal eine E-Mail erhalten, dass die Registrierung Erfolg hatte“, berichtet Herr Meyer.

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„Eine angenehme Erfahrung“

Anne-Kathrin Semmler mietet eine Wohnung in der Nähe des Virchow-Klinikums in Berlin. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, entschloss sie sich, ihre Wohnung für eine geflüchtete Person zu verlassen und zu ihrem Freund zu ziehen. „Ich wollte helfen“, erklärt Frau Semmler die Motivation, ihren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. „Man sieht ja den eigenen Wohlstand. Mein Freund hat auch eine Wohnung, also konnte ich zu ihm ziehen“, so die Immobilienverwalterin.

Als Frau Semmler ihren Wohnraum über die Initiative „housing.berlin“ anbot, machte sie deutlich, dass sie keine Kapazitäten für die Begleitung zum Sozialamt oder Jobcenter habe. „Klar, kann ich mal zum Einkaufen mitkommen oder die Infrastruktur kurz erklären, aber ich hatte keine Zeit für umfangreiche Fragen oder eine Art Betreuung“, erklärt Frau Semmler.

Glücklicherweise lief alles so, wie sich Frau Semmler das vorgestellt hatte. Anfang Mai zog eine Ukrainerin in ihre Wohnung ein. Für die Schutzsuchende war die Wohnung aufgrund der Nähe zum Virchow-Klinikum passend. Ihre Tochter war dort zur Behandlung.

Hilfe bei Behördengängen oder Anträgen benötigte die Ukrainerin zu der Zeit nicht. Außer zur Registrierung in Tegel suchte sie keine Behörden auf. Der Besuch und die Genesung der Tochter hatten Priorität, weswegen auch der Wohnraum fast nur zum Schlafen genutzt wurde. Aufgrund der Sprachbarriere informierte sich Frau Semmler über eine Übersetzerin über das Wohlbefinden ihres Gasts. „Sie hat nie ein Unwohlsein geäußert“, berichtet Frau Semmler.

Als die Tochter Anfang Juni aus dem Krankenhaus entlassen wurde, suchten die beiden eine Wohnung für zwei Personen. In der Wohnung von Frau Semmler konnten sie zu zweit nicht bleiben. Das hatte der Vermieter verboten. Die Unterbringung in Frau Semmlers Wohnung war sowieso nie unbegrenzt angedacht. „Über den Sommer wäre es sicherlich noch gegangen, aber spätestens ab Herbst hätte ich schon gesagt, dass ich die Wohnung wieder benötige“, meint die Gastgeberin.

Frau Semmler half dann noch bei der Vermittlung einer neuen Wohnung. Mutter und Tochter sind wieder im privaten Wohnraum in Berlin untergekommen. Frau Semmler hat noch lose Kontakt zu ihnen und weiß, dass sie sich jetzt auch dem deutschen Behördendschungel stellen. Die ehemalige Gastgeberin hofft, dass sie dabei Unterstützung erhalten.

Auch wenn die Unterbringung in ihrem Fall gut funktioniert hat und sowohl für Gastgeberin als auch Gast eine angenehme Erfragung war, hätte sich Frau Semmler einen Verteilungsschlüssel für die Menschen aus der Ukraine gewünscht. „Es war fahrlässig, dass die Menschen sich den Wohnort selbst aussuchen dürfen“, meint Frau Semmler. Sie versteht nicht, dass kleine Städte und Ortschaften nicht in die Unterbringung der Ankommenden einbezogen wurden, obwohl sie doch auch Kapazitäten hätten.

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