Wir gegen das Imperium

Der Kunsthistoriker Philippe Pirotte übt auf der lumbung-Konferenz der documenta Kritik

Von Julia Hubernagel

Zu einem Denkmal der Trauer über „die Unmöglichkeit des Dialogs“ hatte das indonesische Künst­le­r:in­nen­kol­lek­tiv Taring Padi ein wegen antisemitischer Darstellungen abgebautes Banner umdeklariert – ein Motto, das über der gesamten documenta fifteen stehen könnte. Wie verhärtet die Fronten sind, wurde nochmals deutlich am Dienstag, zum Auftakt der von der Kunstausstellung organisierten lumbung-Konferenz, die noch bis Freitag in Kassel läuft und online übertragen wird. Den Auftakt machte der belgische Kunsthistoriker Philippe Pirotte, der über „Kontrollvermeidung“ referieren sollte.

Darum ging es aber eigentlich gar nicht, eher hielt Pirotte die documenta nochmals als Projekt für all diejenigen hoch, denen die Antisemitismusvorfälle und die irritierende Kommunikationsstrategie der Verantwortlichen die 15. Ausgabe der Weltausstellung nicht verhageln konnten. All die tollen Aspekte der documenta hätten die „Mainstream-Medien“ nicht beschäftigt, meint Pirotte, die seien mit „etwas anderem“ beschäftigt gewesen. Der Grund für die Angriffe seitens der Medien liege darin, so Pirotte, dass in Kassel etwas aufgebaut wurde, was die Mehrheitsgesellschaft nicht ertragen könne. Deswegen sei alles getan worden, „um uns zu diskreditieren“.

Die Instrumentalisierung der documenta durch „konservative Meinungsmacher“ prangerte er schon vor einigen Wochen an. Pirotte, der Mitglied im Gremium sowie im Beirat der documenta ist, wittert im Interview mit der Frankfurter Rundschau hinter den Antisemitismusvorwürfen „Kräfte, die eine alte, weiße, modernistisch organisierte Gemeinschaft wollen“ – Vorwürfe, die in dieser Zeitung sowie in der jungle.world oder dem neuen deutschland diskutiert wurden.

Ganz so einseitig, wie Pirotte findet, ist denn auch die mediale Berichterstattung nicht. Im Deutschlandfunk wird regelmäßig den auf der documenta vertretenen internationalen Kollektiven jenseits von Antisemitismusvorwürfen Sendezeit eingeräumt. In der Zeit griff vor wenigen Tagen Marion Detjen die Expertenkommission an und nannte die Aufforderung, antisemitische Filme nicht mehr zu zeigen, Zensur. Im Spiegel wiederum stand explizit nicht das Ku­ra­to­r:in­nen­kol­lek­tiv ruangrupa im Fokus der Vorwürfe, sondern die Verantwortlichen in Deutschland. „Vielleicht wurde der globale Süden nur eingeladen, weil sich ein paar Kunstleute aus Deutschland oder Großbritannien in ihrer Rolle als Zündler gefallen“, schrieb Ulrike Knöfel, die bei vielen in der Kunstwelt zudem eine Obsession mit der antiisraelischen Boykottinitiative BDS konstatierte.

Jetzt waren die Antisemitismusvorwürfe kaum Thema, stattdessen ging es viel um Kolonialismus, Kolonisatoren und Kolonisierte. Pirottes Argumentation war mitunter schwer zu folgen, selbst die zwei Simultanübersetzer taten sich schwer. Der Vortrag, der, wie er sagt, gemeinsam mit anderen nicht genannten Au­to­r:in­nen entstand, strotzt vor historischen Zitaten. Einen Fokus setzte er auf die Sprache, das von ruangrupa geprägte lum­bung-­Vokabular, auf die Machtverhältnisse, die sich in der Sprache des „Empires“ ausdrückten. Pirotte meint wohl frühere Kolonialmächte, betont fast anerkennend, dass Indonesien nach dem Ende der Kolonialherrschaft nicht die niederländische Sprache übernommen hat.

Doch das „Empire“ ist bei ihm weiterhin präsent, synonym mit dem Westen, der Nato, Europa (?), und wird auch von den Zu­schaue­r:in­nen im Saal so verwendet. Überhaupt gibt es in Kassel keine kritischen Fragen, affirmative Dankbarkeit liegt den meisten Wortbeiträgen zugrunde. Lediglich der von ruangrupa bemühte Slogan „Make friends, not art“ scheint für Unklarheit zu sorgen. Es komme darauf an, wie man Freundschaft definiere, meint Pirotte, bis 2020 Leiter der Städel-Kunsthochschule in Frankfurt am Main, auch Kunstwerke könnten Freunde sein. Letztlich drücke der Slogan jedoch vor allem aus, dass Kunst nicht in einem Vakuum entstehen soll, sondern zusammen mit anderem, in einem Netzwerk. Als sei das anders je möglich gewesen.