Niedersachsen vor der Wahl: Land ohne Landbewusstsein

Niedersachsen tut sich schwer mit der eigenen Identität. Das liegt nicht nur daran, dass das Bundesland nach 1945 einfach zusammengeschustert wurde.

Eine Gans steht vor einem Austellungsgebäude der VW Autostadt

Ist doch schön: Wolfsburg am Mittellandkanal Foto: Nikita Teryoshin/focus

BERLIN taz | Navid Kermani hatte es nicht leicht. So richtig wusste der Schriftsteller nicht, warum ausgerechnet er zum 75. Geburtstag Niedersachsens im vergangenen Jahr eine Festrede halten sollte. „Nun bin ich zwar vieles, ich bin eingewanderter Iraner, gebürtiger Westfale, zugezogener Rheinländer, dankbarer Deutscher, überzeugter Europäer, aber Niedersachsen kommt in meinem Portfolio von Herkünften und Kompetenzen nicht vor“, sagte er höflich. Er redete dann über Afghanistan.

So ist das in Niedersachsen: Da naht mal wieder ein Jubiläum, und dann wird offenbar in der Staatskanzlei hektisch gegoogelt, um jemanden zu finden, der ein bisschen Glanz und Intellekt in die Party bringen soll. Aber jemand, der klug über Niedersachsen reden kann und will, gibt es offensichtlich nicht (der Schriftsteller Walter Kempowski hätte es tun können als einstiger Wahlniedersachse – aber der ist leider schon lange tot.)

Es ist auch kein Wunder: LandespolitikerInnen aller Bundesländer beschwören gern „Identität“ und „Tradition“, um so etwas wie ein Landesbewusstsein zu schaffen, was immer etwas Künstliches hat, weil die Bundesländer, wenn man ehrlich ist, eher administrative Einheiten sind – außer Bayern und Sachsen vielleicht. Aber Niedersachsen hat es besonders schwer. Das Land ist eine Kunstschöpfung, nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengeschustert aus ehemals selbstständigen Ländern und Landstrichen mit eigenen Traditionen. Das war bei vielen Bundesländern so, aber in Niedersachsen wird dem Schritt zu einem Bundesland an manchen Stellen bis heute widerstanden.

So heißen die Christdemokraten im Land „CDU in Niedersachsen“ – nicht etwa CDU Niedersachsen. Denn ihr Oberverband darf sich bis heute nicht Landesverband nennen – das Privileg haben die Landesverbände Hannover, Braunschweig und Oldenburg, fein austariert nach den Ländergrenzen, die früher mal galten.

Oldenburg i.O.

In der Region Oldenburg – bis 1918 ein Großherzogtum, bis 1933 ein Freistaat – kam es 1975 zu einem erstaunlichen Volksentscheid: Stolze 81 Prozent der WählerInnen votierten dafür, wieder eigenständig zu werden. Die Wahlbeteiligung war niedrig, doch das nötige Quorum wurde erfüllt. Der Bundestag setzte sich aber darüber hinweg und verhinderte die kleine Unabhängigkeitserklärung.

Allein schon das Wort Niedersachsen, ein Kunstwort aus dem 19. Jahrhundert, mit dem so etwas wie ein Niedersachsen-Bewusstsein geschaffen werden sollte: Aber ein Ostfriese sieht sich bis heute als Ostfriese, eine Osnabrückerin dürfte sich eher als Westfälin fühlen, und ein Cuxhavener würde sich ganz klar als norddeutsch bezeichnen. Und dieser Regionalbezug gilt auch für die vielen Niedersächsinnen und Niedersachsen mit Migrationsgeschichte.

Die rhetorische Verlegenheitslösung in Niedersachsen heißt Vielfalt. Das Wort darf in keinem Grußwort oder Jubiläum fehlen. Wir sind vielfältig, also sind wir irgendwie interessant. Aber was macht diese Vielfalt aus, und was hält die Vielfalt zusammen? Darauf gibt es in Niedersachsen keine Antworten und kann es wohl auch keine geben.

Gemischt konfessionell

Zwischen Ostfriesland und dem Emsland verläuft eine Grenze, die man nicht sehen kann, die aber bis heute große Bedeutung hat: Ostfriesland ist protestantisch, das Emsland katholisch geprägt. Und in Ostfriesland wählt man natürlich mehrheitlich SPD und im Emsland die CDU – nicht, weil die Parteien jeweils so toll wären, sondern weil man das eben so macht und um sich von „den anderen“ abzugrenzen. Die Kirchenbindung schmilzt auch hier ab, aber in traditionellen Familien werden „gemischt-konfessionelle“ Ehen bis heute nicht gern gesehen. Würde Nordirland in Niedersachsen liegen, es gäbe wahrscheinlich bis heute kein Karfreitagsabkommen. Aufeinander zuzugehen und sich über sozialen Druck hinwegzusetzen, ist nicht gerade die größte Stärke der (ländlichen) Niedersachsen.

Ein weiterer Hemmschuh für so etwas wie eine Niedersachsen-Identität: Niedersachsen hat das Pech, dass die Peripherie viel interessanter als der Kern ist: Die herrlichen, aber leider größtenteils durchgentrifizierten Ostfriesischen Inseln (siehe Seite 7). Das melancholische Cuxhaven mit seinem meistens leer stehenden Hafen, wo früher die großen Auswandererschiffe in die USA abgingen. Die im Westen nahe holländische Großstadt Groningen, wo sich Ostfrieslands Nachwuchs früher mit Marihuana und Schallplatten eindeckte. Der Wirtschafts-, Studier- und Feiermagnet Hamburg, der die jungen Leute Nordniedersachsens seit Generationen anzieht und dafür sorgt, dass die niedersächsischen Vororte eher Schlafstädten gleichen. Selbst im Süden wirken Fliehkräfte: Das hessische Kassel mag woanders als Provinz gelten, nicht aber, wenn man in Göttingen studieren oder leben muss.

Und das wirtschaftliche und politische Zentrum in der Region Hannover-Braunschweig-Wolfsburg? Das ist wohlhabend, aber völlig öde; eine gesichtslose Nicht-Landschaft mit großflächigen Zuckerrüben- und Maisfeldern, dazwischen Hochspannungsmasten, Kanäle und ein Gewirr von Autobahnen. Es gibt wirklich nichts, was das Auge erfreut, ab und zu erspäht man vielleicht ein altes Fachwerkhaus. Dazwischen nicht enden wollende Teppiche von Einfamilienhaussiedlungen, finanziert vom gutem Gehalt bei VW oder dem Autozulieferer Continental. Und vor der Haustür werden im Herbst Kürbisse drapiert und zu Ostern ein Osterstrauß.

Don't f*ck with VW

Wo gerade von VW die Rede ist: Es gibt ein ehernes Gesetz in Niedersachsen. Es lautet: Wer Volkswagen kritisiert, macht sich unbeliebt, denn zu viele profitieren von dem Konzern und sind von ihm abhängig. Das Land hält knapp 12 Prozent der Aktien von VW, und der jeweilige Ministerpräsident darf den Co-Manager spielen, weil er immer im Aufsichtsrat sitzt. Die Kommunen freuen sich über die Gewerbesteuereinnahmen. Die IG Metall hat viel Macht bei VW durch hohe Mitgliederquoten. Und 130.000 Beschäftigte freuen sich über gute Gehälter. Dass der ehemalige Betriebsratsboss Bernd Oster­loh, der jahrelang den Arbeiterführer gab, vor einem Jahr plötzlich die Seiten wechselte und Vorstand bei einer VW-Tochter wurde, wurde im Land eher achselzuckend hingenommen, denn man ist ja scheinbar eine große Familie.

Mit der zaghaften Frage, ob so viel wirtschaftliche Machtkonzentration gut ist, darf man gar nicht erst kommen im Land – genauso wenig mit der Frage, ob es wirklich die Klimakrise löst, wenn jetzt alle mit E-Autos herumfahren sollen. Selbst die sehr mittig gewordenen Niedersachsen-Grünen bejubeln in ihrem Wahlprogramm die „klimaneutralen E-Autos“ von VW.

Sogar in der Wissenschaft hat VW indirekt einen Fuß in der Tür. Die milliardenschwere Volkswagenstiftung, die im vergangenen Jahr knapp 150 Millionen Euro Forschungsgelder allein für Niedersachsen ausschüttete, hat organisatorisch nicht mit VW zu tun (sie entstand aus den Erlösen, als der Bund seine VW-Anteile verkaufte) – aber das Land Niedersachsen reicht seine Dividenden aus ihren VW-Aktien jedes Jahr an die Stiftung weiter. Wenn es VW gutgeht, geht es auch der Stiftung gut. Ob die Stiftung mal ein Forschungsprojekt finanziert, das sich kritisch mit der wirtschaftlichen Macht von VW im Land befasst? Oder der Frage nachgeht, warum es ausgerechnet in einem gewerkschaftlich mitbestimmten und politisch kontrollierten Konzern wie VW zu einem Dieselskandal kommen konnte?

1990 kam es zu einer kleinen Revolution im Land. Ein gewisser Gerhard Schröder – es war nicht alles schlecht an ihm – besiegte die sehr konservative Landes-CDU und ging mit dem damals noch ziemlich linken Grünen Jürgen Trittin eine Koalition ein, was in der Bundesrepublik für ein mittleres Erdbeben sorgte. Die Greenpeace-Frau Monika Griefahn wurde Umweltministerin, die neue Regierung beschloss – rein symbolisch, aber immerhin – den Ausstieg aus der Atomenergie und kam mit für Niedersachsen damals so unerhörten Dingen wie einem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz um die Ecke. Vier Jahr später war das rot-grüne Wagnis vorbei, die SPD konnte danach allein regieren. Experimente mag man in Niedersachsen nicht so, und seitdem regiert im Land das kommode Weiter-so.

So geht es im Grunde am Sonntag nur um Nuancen. Einen großen Unterschied wird es nicht machen, ob nach der Landtagswahl Herr Weil von der SPD nun mit der CDU oder den Grünen in Hannover regiert oder ob Herr Althusmann von der CDU mit welchem Koalitionspartner auch immer Ministerpräsident wird. Denn jeder künftige Regierungschef (aussichtsreiche Kandidatinnen gibt es nicht) wird das tun, was alle seine Vorgänger gemacht haben: Nett zum VW-Konzern sein, schön von regionaler Vielfalt reden und den Obstbäuerinnen im Alten Land zu ihrer Apfel­ernte gratulieren.

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