Putins Expansionismus: Aufgeben ist nicht vorgesehen

Chaos ermöglichte den Aufstieg Putins, der Stabilität versprach. Sein Expansionismus kann erst recht zu einem unkontrollierten Zusammenbruch führen.

Illustration von Wladimir Putin mit langem Schatten auf dem langen Tisch

Wladimir Putin: Machtarroganz und fatale Fehler Illustration: Katja Gendikova

Der Westen betreibe aggressive Hegemoniepolitik, sei zugleich aber ein Papiertiger, verkündete Russlands Präsident Wladimir Putin jüngst beim östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok – und wie so oft hatte er keine großen Probleme, zwischen Herumgeopfere und Gigantomanie widersinnig hin und her zu hopsen. Russland verliere durch die Sanktionen des Westens nichts, behauptete er kühn, nur um dann zu drohen, dass Russland seine Energielieferungen gänzlich einstellen werde, würden die Sanktionen nicht aufgehoben.

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Indes produziert die Autoindustrie wegen Technologiemangel klapprige Karren ohne Airbags und, schlimmer noch, ohne moderne Bremssysteme. Selbst in den kontrollierten Medien kann die Propaganda die erstaunlichen Rückschläge in der Ukraine nicht mehr ignorieren. „Wenn man weiß, wir haben die Gerechtigkeit auf unserer Seite, wieso gibt es dann keinen Sieg?“, wimmerte ein Talkgast im Propagandafernsehen. Ein anderer fiel ihm ins Wort und erinnerte an Stalins Postulat: „Wer Panik schürt, wird erschossen.“

Teilmobilmachung, Fake-Referenden, Nukleardrohung – Putin eskaliert immer mehr. Selbst Putins Verbündete sind schon sauer. Die Freude in Peking ob der globalen Krise hält sich offenbar sehr in Grenzen, und Indiens ultrarechter Premier Narendra Modi sagte dem russischen Autokraten ins Gesicht, „das ist jetzt nicht die Zeit des Krieges, sondern des Friedens“.

Mittlerweile fragt man sich in den internationalen Polit- und Strategiezirkeln bange, ob das Putin-Regime eine Niederlage in der Ukraine überstehen könnte und ob man sich nicht besser mit der Möglichkeit eines chaotischen Zusammenbruchs in Russland vertraut mache. Nicht weniger bange die Frage: Was hat er vor, wozu ist er fähig, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht?

Die Sanktionen wirken

22 Jahre ist es jetzt her, dass Putin aus dem Hut gezaubert wurde – um nach den neunziger Jahren, dem Jahrzehnt von Chaos und Wirren, das Land zu stabilisieren. Selbst im Westen stieß der stille, schmächtige Mann damals auf Wohlwollen, und auch die Grunderzählung seiner Präsidentschaft wurde von vielen gekauft, nämlich, dass ein Land wie Russland einen gewissen Grad an autoritärer Herrschaft brauche.

Spulen wir zurück. Es ist der 31. Dezember 1999. Der letzte Tag des Jahrtausends. Boris Jelzin, der erste Präsident der Russischen Föderation, tritt überraschend zurück. Jelzin übergibt die Präsidentschaft verfassungsgemäß an den Premierminister, an Wladimir Putin, der zu diesem Zeitpunkt noch keine fünf Monate in diesem Amt ist. Putin ist tatsächlich „Der Mann ohne Gesicht“, wie die russisch-amerikanische Autorin Masha Gessen vor einigen Jahren ihr Buch betitelte.

„Ein Hooligan“ sei er in seiner Jugend gewesen, gab Wladimir Putin in einem Interview damals zu. „Ich war ein echter Schläger.“ Putin selbst ist immer wieder auf diese Geschichten zurückgekommen, hat die Straße „meine Universität“ genannt. Unter den vier Grundsätzen, die er aus seiner Gangsterzeit mitgenommen habe, ist auch „Schluss Nummer drei: Ich habe gelernt, dass man – egal ob ich im Recht war oder nicht – stark sein müsse.

Ich musste in der Lage sein, dagegenzuhalten … Schluss Nummer vier: Es gibt keinen Rückzug, du musst bis zum Ende kämpfen.“ Vielleicht gibt uns diese Geschichte einen Einblick in das Denken von Wladimir Putin, wie er „tickt“. Vielleicht aber auch nur, wie er gesehen werden will. Putin, zuvor als KGB-Mann in Dresden, war Anfang der 90er Jahre als stellvertretender Bürgermeister in Sankt Petersburg gelandet, seiner Heimatstadt, wo er am Stadtrand, in Trabantenstädten, in einer Arme-Leute-Gegend aufgewachsen ist.

Putin, der Macher

Putins Chef ist damals Anatoli Sobtschak, ehemals Rechtsprofessor und der berühmteste russische prowestliche Reformer. Er ist eine strahlende Figur, kein besonders guter Organisator, aber ein Trickser, der sich als Liberaler gibt und hintenrum mit den alten Machthabern paktiert. Putin ist Sobtschaks „Fixer“, der, der die Dinge erledigt.

Putin tut sich mit der Mafia zusammen, die ­damals den Großen Hafen in Sankt Petersburg in der Hand hat. Er ist mit seinen KGB-Leuten verbunden, zugleich schließt er Bündnisse mit dem organisierten Verbrechen. Als Sobtschak später abgewählt wird, wechselt Putin nach Moskau in den Kreml. Dort steigt er schnell auf. „Er war ­folgsam wie ein Hündchen“, heißt es über diese Jahre.

Das Absurde an dem Manöver von 1999: Jelzin macht Putin zu seinem Nachfolger, um den Demokraten die Macht zu retten. Putin legt in einer Fernsehansprache seine Sicht dar. Russland ist als Macht abgestiegen, spielt nicht einmal mehr eine zweit-, sondern eine drittrangige Rolle. „Es wird nicht so bald geschehen – falls es überhaupt jemals geschieht –, dass Russland eine zweite Ausgabe von, beispielsweise, den USA oder Großbritannien wird, deren liberale Werte tiefe historische Traditionen haben“, schrieb er.

„Für Russen ist ein starker Staat keine Abnormalität, die man loswerden will. Im Gegenteil, sie sehen ihn als Quelle und Garanten der Ordnung an.“ Es ist ein Kreis von Hardlinern aus den Sicherheitsdiensten, allen voran aus Putins KGB-Seilschaften, der nach dem Amtsantritt Putins zur Jahrtausendwende vor 22 Jahren die Geschicke im Kreml bestimmt und die Macht immer mehr konsolidiert hat.

Ununterbrochenes Abschlachten

Mit dem Tschetschenienkrieg inszeniert sich Putin als starker Mann: „Wir werden sie in ihren Scheißhäusern ausräuchern“, erklärt er. Tschetschenien wird, wie das einmal eine Journalistin formulierte, zu einem „Schlachthaus, das 24 Stunden am Tag in Betrieb ist“. Die „Oligarchen“, also jene Freibeuter, die die Jahre der chaotischen Privatisierung nutzten, werden entmachtet, besonders jene, die unter Verdacht stehen, sie könnten in die Politik oder auch nur in die öffentliche Meinung eingreifen wollen – sie gehen ins Exil oder landen im Straflager oder sterben auf unerwartete Weise.

Die neuen „Oligarchen“ sind eigentlich keine mehr, sondern KGB-Funktionäre. Sie üben sozusagen nur den Job des Oligarchen aus, was nicht heißt, dass sie sich nicht Milliarden auf die eigenen Konten verschieben dürfen. Die pluralistische, offene Gesellschaft wurde wie in einem schleichenden Putsch immer mehr abgewürgt – und mit zunehmender Rasanz versinkt das Land ab 2012 in eine vollkommene Despotie. Wer im „System Putin“ heute wirklich die Macht hat, weiß niemand so genau.

Sicher ist nur: Da ist Nikolai Patruschew, der Chef des Nationalen Sicherheitsrates, ein KGB-Mann, der seit bald dreißig Jahren an Putins Seite agiert; da ist Sergei Naryschkin, der Chef des Auslandsgeheimdienstes; da ist Sergei Schoigu, der Verteidigungsminister; da ist Igor Setschin, der schon in Sankt Petersburg als Putins Sekretär arbeitete, und nun das Ölkonglomerat Rosneft leitet. Da ist Gazprom-Chef Alexei Miller, auch er aus Jelzins Sankt Petersburger Seilschaft.

Als Chef des Hochseehafens war er gewissermaßen Verbindungsmann zur organisierten Kriminalität. Da ist Putins Sprecher Dmitri Peskow, der dem Autokraten schon seit 22 Jahren zur Seite steht. Allesamt sind sie radikale Konservative mit Schlagseite Richtung Faschismus, die Russland als antiwestliche Macht sehen, als Antipoden zum dekadenten „Gayropa“. Vom ersten Tag der Herrschaft an entwickelt die Putin-Truppe eine Art „Staatsideologie“ mit mehreren Komponenten.

Ein erniedrigtes, beleidigtes Volk

Die Idee von der „souveränen Demokratie“, also eine gelenkte Scheindemokratie, in der ein starker Einziger an der Spitze steht: Der Anführer, Präsident, Zar. Das zweite Element ist Patriotismus, verbunden mit Volkstümlichkeit. Das „Narod“, verstanden als „einfaches Volk“, mit seinem gesunden Patriotismus. Drittens: Territorium, das Reich, das Imperium des russischen Vielvölkerstaates.

2005 bezeichnet Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Mindestens Belarus, Georgien und vor allem die Ukraine werden als historischer Teil einer „Russkyj Mir“, der „russischen Welt“ verstanden. Und über all dem liegt, gewissermaßen als Guss, ein Gefühl der aggressiven Gekränktheit. Putin, so meint der Slawist Riccardo Nicolosi, beschreibt Russland als ein Volk der „Erniedrigten und Beleidigten“, er modelliert in seiner Rhetorik Russland „als ein zutiefst gekränktes Land, das vom Westen wiederholt beleidigt und betrogen worden sei“.

Russland sei ein „kriegstreiberischer Staat geworden, der von einer Clique regiert wird“, sagte Putins höchster Wirtschaftsberater Andrei Illarjonow und trat offiziell aus Protest gegen die russisch-ukrainischen Beziehungen bereits 2005 zurück. Fuhr der Putin-Zug von Beginn an in Richtung KGB-Mafia-Despotie? Mit dem revanchistischen Ziel der Wiedererrichtung des Imperiums, Expansionismus inklusive? Das ist hochspekulativ.

Oft wird angemerkt, dass der Westen dazu einen Beitrag geleistet hat – nicht selten, um Imperialismus und Despotie als verständliche Reaktion auf Abfolgen von Kränkungen zu verharmlosen. Das macht die Frage „Wie haben wir Russland verloren?“ trotzdem nicht völlig abwegig. Die ökonomische Schocktherapie, die vornehmlich US-Berater dem Land in den neunziger Jahren empfohlen haben, hat das Chaos und die Wirren angerichtet, die die Sehnsucht nach einen Anführer nährten, der für Ordnung sorgt.

Machtarroganz und fatale Fehler – teils der Leute rund um Bill Clinton und vor allem der George-W.-Bush-Regierung – haben ihre Beiträge geleistet. Entschuldigen können solche Erklärungen sowieso nichts. Sonst könnte man auch die Nazis mit dem – zweifelsohne zutreffenden – Hinweis rechtfertigen, dass der Versailler Vertrag und fatale Fehler der Entente-Staaten ihren Aufstieg begünstigt haben.

Putin hat sein Regime auf das Versprechen von Stabilität, nationaler Würde, expansiver Verschärfung und imperialer Restauration begründet. Das macht ihn jetzt verwundbar. Ein Krieg, der schiefgeht, stellt sein ganzes Narrativ in Frage.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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