Schon bei 1,5 Grad Erderhitzung: Das Klima kippt früher

For­sche­r:in­nen warnen in einer Studie: Schon in wenigen Jahren droht eine planetare Kettenreaktion, mit der die Klimakrise sich verselbstständigt.

Schmelzende Gletscher

Der schmelzende Eisschild Grönlands hat den weltweiten Meeresspiegel seit 1992 steigen lassen Foto: Benoit Lecavalier/dpa

EXETER/BERLIN dpa/taz | Sie sind das Damoklesschwert der sich ohnehin stetig verschärfenden Klimakrise: die Kipppunkte des Klimasystems. Heizt sich die Erde zu stark auf, könnten Elemente des Klimasystems komplett außer Kontrolle geraten – und das Leben auf der Erde unumkehrbar erschweren.

Wann genau diese Kipppunkte drohen, gilt bislang allerdings auch in Fachkreisen noch als ungewiss. Ein internationales Forschungsteam ist jetzt nach Auswertung von Studien aus mehr als einem Jahrzehnt zu dem Thema zu dem Schluss gekommen, dass wir vier der gefährlichen ökologischen Schwellen schon 2030 überschreiten könnten.

Zwei der Kipppunkte betreffen den grönländischen Eisschild beziehungsweise den westantarktischen Eisschild. Die Überschreitung der Schwelle könnte zu einer Dynamik führen, die die Eisschilde auch dann weiter abschmelzen lässt, wenn sich die Temperatur auf der Erde durch ein Stoppen der Treibhausgas-Emissionen nicht weiter erhöht, berichtet das Team um David Armstrong McKay und Timothy Lenton von der britischen University of Exeter in der Fachzeitschrift Science.

Lenton gehört zu den Forscher:innen, die 2008 erstmals Kipppunkte für das Weltklima benannten. Sie definierten Kipppunkte als „eine kritische Schwelle, an der eine winzige Störung den Zustand oder die Entwicklung eines Systems qualitativ verändern kann“. Wenn beispielsweise ein Gletscher beim Abschmelzen an Höhe verliert, gerät seine Oberfläche in niedrigere, wärmere Luftschichten, was das Abschmelzen beschleunigt.

9 weltweit relevante Kipppunkte

Seit 2008 sind mehr als 200 Studien zum Thema „Kipppunkte“ erschienen. Armstrong McKay, Lenton und Kol­le­g:in­nen haben sie sorgsam studiert und auf der Basis ein aktualisiertes Modell der Klima-Kipppunkte erstellt. Sie ermitteln neun Kipppunkte, die für das weltweite Klima relevant sind, und sieben Kipppunkte, die immerhin weitreichende regionale Auswirkungen haben.

Die For­sche­r:in­nen kommen zu der Einschätzung, dass beim Erreichen einer Erderwärmung von durchschnittlich 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter vier Kipppunkte erreicht werden: beim grönländischen und westantarktischen Eisschild, beim Absterben der tropischen Korallenriffe und beim Tauen des Permafrostbodens.

Aufgrund der Entwicklung in den vergangenen Jahren prognostizieren sie, dass die 1,5 Grad bereits im Jahr 2030 Wirklichkeit werden. Der Weltklimarat IPCC, ein internationales Gremium führender Wissenschaftler:innen, war im vergangenen Jahr von einem Zeitpunkt in den frühen Dreißigerjahren ausgegangen. Im vergangenen Jahr lagen die Temperaturen im globalen Schnitt 1,1 Grad über dem vorindustriellen Niveau, im Vorjahr waren es sogar schon 1,2 Grad.

Wenn alle politischen Klimaziele, die Regierungen in mehr oder weniger verbindlicher Form ausgerufen haben, vollständig erreicht werden, läuft das bis zum Ende des Jahrhunderts auf eine globale Erhitzung von 1,8 Grad hinaus. Das haben Ex­per­t:in­nen von zwei Thinktanks mit ihrem Projekt Climate Action Tracker ermittelt.

Das ist bereits eine überaus optimistische Rechnung, denn zu vielen dieser Ziele gibt es noch keine passenden Maßnahmen. Guckt man sich nur an, welche konkreten Schritte schon beschlossen wurden, sieht das Ergebnis noch dramatischer aus: Dann erhitzt sich die Erde wahrscheinlich um 2,7 Grad.

„Damit ist die Erde geradewegs auf Kurs, mehrere gefährliche Schwellenwerte zu überschreiten, die für die Menschen auf der ganzen Welt katastrophale Folgen haben würden“, warnt Johan Rockström, Mitautor der Studie und Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.

Mit der Annäherung der Erderwärmung an zwei Grad werden weitere Kipppunkte möglich: das Abschmelzen der Gebirgsgletscher außerhalb der Polargebiete sowie das Absterben des borealen Nadelwalds im südlichen Verbreitungsgebiet.

Für Europa besonders relevant sind aber die Änderungen beim Golfstrom, dem Teil der atlantischen Umwälzzirkulation, die für milde Temperaturen in Europa sorgt. Den Forschenden zufolge wird ein Zusammenbrechen eines Golfstromausläufers südlich von Grönland immer wahrscheinlicher, was sich auch auf die gesamte Umwälzzirkulation auswirke. Dass die gesamte atlantische Zirkulation – und damit der Golfstrom – zusammenbrechen könnte, werde jedoch erst bei einer Erderwärmung von mehr als vier Grad wahrscheinlich.

Auch bei den Eisschilden gehen die For­sche­r:in­nen von einem Prozess von 2.000 Jahren (westantarktischer Eisschild) oder 10.000 Jahren (grönländischer Eisschild) bis zum völligen Abschmelzen aus. Bei anderen Teilen der Antarktis würden die Kipppunkte erst bei einer Erderwärmung von drei bis sieben Grad erreicht.

Sollten jedoch alle polaren Eiskappen abschmelzen, würde sich der weltweite Meeresspiegel um etwa 66 Meter erhöhen. Auch andere Folgen des Klimawandels könnten katastrophale Auswirkungen auf das Leben auf der Erde haben.

Deshalb mahnt Rockström: „Um gute Lebensbedingungen auf der Erde zu erhalten, die Menschen vor zunehmenden Extremen zu schützen und stabile Gesellschaften zu ermöglichen, müssen wir alles tun, um das Überschreiten von Kipppunkten zu verhindern – jedes Zehntelgrad zählt.“

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