Barrierefreiheit bei der Bahn: Auf halber Strecke steckengeblieben

Keine Stufen am Eingang zum Zug wäre für viele eine große Erleichterung. Die Bahn will liefern, jedoch erst 2024 und auch nicht auf allen Strecken.

Jemand steigt mit dem Koffer in der Hand die Stufen hoch in einen Zug der Deutschen Bahn

Keine Stufen am Eingang zum Zug wäre für viele eine große Erleichterung Foto: Max Kovalenko/imago

Es hätte eine Zeitenwende sein können. Die Bahn hat in dieser Woche erstmals einen Wagon für ICE vorgestellt, der ohne Stufen am Eingang auskommt. Nicht nur Menschen mit Rollstühlen, auch geplagte Eltern mit Kinderwagen und alle anderen Reisenden mit Rollkoffern müssen dann nicht mehr sich selbst, ihre Lieben oder das Gepäck in den Zug wuchten, sondern können einfach rein rollen, barrierefrei.

Vor allem für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ist das eine Revolution. Denn die können bisher nur in den Zug, wenn sie vorher Extrapersonal bei Bahn beantragen, das sie dann mit einem Hubwagen in den Wagon hievt. Und die Bahn mal wieder plötzlich nicht genug Personal hat, müssen Rol­li­fah­re­r:in­nen draußen bleiben.

Bis der Traum von gelebter Inklusion Wirklichkeit wird, dauert es allerdings noch. Ab Oktober 2024 sollen die neuen ICE L – das steht laut Bahn für „low floor“, also „Niederflur“ – erstmals im Einsatz sein auf der Stecke von Berlin nach Amsterdam. In den folgenden Jahren sollen nach und nach insgesamt 23 Züge des spanischen Herstellers Talgo geliefert werden.

Wichtiger aber noch ist das Versprechen, das Bahn-Vorstandsmitglied Michael Peterson bei der Präsentation des Zugs in Berlin gab: „Unser Ziel als DB ist: Bahn fahren für alle, Bahn fahren ohne Barrieren.“ Bei künftigen Ausschreibungen soll der stufenlose Zutritt daher Standard werden. Und das ist die eigentliche Revolution.

In Sachen Inklusion trotzdem noch mau

Denn bisher setzte die Bahn beim ICE ausschließlich auf den deutschen Hersteller Siemens. Der darf auch bis 2030 weiter noch neue Züge mit Stufen liefern. Das ist vertraglich vereinbart. Und diese Züge werden dann über mehrere Jahrzehnte eingesetzt werden. Der ICE ist auf eine Lebensdauer von rund 25 Jahren konzipiert. Nichtbarrierefreie ICE wird es also noch bis zum Jahr 2055 geben. Da sieht die Bahn trotz der jetzigen Wende inklusionsmäßig also ziemlich alt aus.

Denn Siemens baut seine Züge mit durchgehenden Achsen. Die liegen rund 30 Zentimeter höher als die in an deutschen Fernbahnhöfen übliche Bahnsteighöhe von 76 Zentimetern. Baut man den Fahrgastraum darüber, sind Stufen unumgänglich.

Der Talgo hingegen kommt ohne Achsen aus. Er fährt auf einzeln angebrachten Rädern, so dass der Fahrgasraum deutlich niedriger gebaut werden kann. Erfunden hat die Technik der spanische Ingenieur Alejandro Goicoechea bereits Ende der 1930er Jahre. Hat die Deutsche Bahn also fast 90 Jahre Verspätung beim Umstieg auf Niederflurzüge?

Ganz so schlimm ist es nicht. Auch in Spanien werden die Talgo erst seit 1992 als Hochgeschwindigkeitszüge eingesetzt. Und absolut barrierefrei sind auch die Schnellzüge der spanische Renfe bis heute nicht, unter andere wegen dort wechselnder Höhen der Bahnsteigkanten. Aber hätte die Bahn beim ICE von Beginn an auf Talgo statt auf Siemens gesetzt, gäbe es heute schon deutlich weniger Probleme beim Einstieg.

Ein einziges Klo

Umso bedauerlicher ist es, dass der Umschwung bei der Bahn auf halber Strecke stecken bleibt. Die neuen ICE L sollen 562 Sitze bekommen, aber weiterhin werden gerade mal drei davon für Roll­stuhl­fah­re­r:in­nen angeboten. Die Bahn nimmt sich offenbar selbst nicht ernst und rechnet gar nicht damit, dass besonders viele mobilitätseingeschränkte Mit­bür­ge­r:in­nen dank Mithilfe der Bahn mobiler werden wollen.

Schlimmer noch: auch in den Niederflur-ICE soll es nur ein einziges barrierefreies Klo geben. Wenn das verstopft ist, darf – so die aktuelle Politik der Bahn – keine Rol­li­fah­re­r:in mit. Und Toiletten in der Bahn sind oft verstopft. Die Bahn hängt dem nicht nur in Deutschland weit verbreiteten Irrtum an, dass der Barrierefreiheit schon Genüge getan ist, wenn sie einen einzigen Weg zum Ziel anbietet. Das Zauberwort hieße hier Redundanz.

Zwei Aufzüge nebeneinander, zwei barrierefreie Eingänge, zweimal soviel rollstuhlgerechte Plätze und eben mindestens zwei barrierefreie Toiletten erhöhen die Wahrscheinlichkeit exorbitant, dass Kun­d:in­nen den angebotenen Service verlässlich nutzen können. Auch wenn ein Aufzug feststeckt, eine Tür klemmt oder eben eine Toilette zum Himmel stinkt. Das wäre dann eine echte Zeitenwende gewesen – noch dazu nachhaltig.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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