Politologin über Giorgia Meloni: „Sie strebt den Umbau rückwärts an“

Die Chefin der rechtsextremen Fratelli d’Italia könnte die Parlamentswahlen in Italien gewinnen. Für Europa würde das Chaos bedeuten, sagt Politologin Sofia Ventura.

Giorgia Meloni macht ein Selfie

Selfie mit Anhänger:innen: Giorgia Meloni bei einem Wahlkampfauftritt in Mailand Foto: Flavio Lo Scalzo/reuters

taz am wochenende: Frau Ventura, Giorgia Meloni und ihre Partei Fratelli d’Italia sind Favoriten für die anstehenden Parlamentswahlen. Womit rechnen Sie?

Sofia Ventura: Sie werden uns wohl die nächsten fünf Jahre regieren. Die Frage ist nicht, ob sie gewinnen, sondern wie hoch.

Giorgia Meloni präsentiert sich im Wahlkampf als „europäische Konservative“ und sagt, in Großbritannien würde sie zu den Tories gehören. Trifft sie da die Wahrheit?

Nun ja, die britischen Konservativen sind ja deutlich nach rechts gerutscht, hin zu populistischen Positionen, denken wir nur an den Brexit. Aber zum Beispiel im Bereich der Bürgerrechte oder beim Familienbild befinden sie sich keineswegs bei den Positionen des stockkonservativen Katholizismus, den Fratelli d’Italia (FdI) predigt. Das sind offen reaktionäre Positionen. Ganz gewiss steht Meloni nicht in der Tradition der europäischen Konservativen, die in der Regel einen liberalen Konservatismus vertreten haben, in dem der Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, der Respekt gegenüber den Rechten der Bürger eine wichtige Rolle spielt.

Wie würden Sie Melonis Grundhaltung beschreiben?

Sie ist reaktionär – und aus dieser Haltung heraus revolutionär, im Sinne einer Revolution gegen das liberale Modell einer offenen Gesellschaft, in der das Individuum mehr zählt als die Gemeinschaft. In ihrem Buch „Io sono Giorgia“ („Ich bin Giorgia“) finden sich Passagen, in denen sie eher für ein mittelalterliches Gesellschaftsmodell plädiert, mit der Familie – nicht dem Individuum – als Grundeinheit, dann kommt das Dorf, kommen die Korporationen, die Berufsstände. Ihr schwebt eine organische Gesellschaft im Sinne eines reaktionären Katholizismus vor.

Was heißt das konkret?

Das heißt, dass sie beim Thema Bürgerrechte die Nähe zu Rechtskatholiken sucht, ob es nun um Rechte der Homosexuellen oder um die Abtreibung geht. Doch unsere Gesellschaften sind heute nicht mehr so – und darüber wird sie zur Revolutionärin, die den Umbau rückwärts anstrebt, nicht viel anders als Victor Orbán.

Wie steht sie zu Orbán?

Sie ist solidarisch mit ihm. Jedenfalls warf sie der EU vor, das Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn „wie eine Keule“ genutzt zu haben.

Melonis Partei steht in der Tradi­tions­linie des Faschismus. In einer auf Englisch, Spanisch und Französisch verbreiteten Videobotschaft erklärte sie jetzt jedoch, die FdI habe „den Faschismus der Geschichte überantwortet“. Wie meint sie das?

Meiner Meinung nach will sie uns sagen, dass wir sie endlich mit dieser Angelegenheit in Ruhe lassen sollen. Sie will sich der Frage nicht ernsthaft stellen. Wenn die Rechte die Wahlen gewinnt, werden hier keine faschistischen Milizen durch die Straßen ziehen. Ich nenne sie „Postfaschistin“. Sie ist als ganz junge Frau bei der Nachfolgepartei des Mussolini-Faschismus, beim MSI, aktiv geworden. Diese Partei erlebte sie als ihre Familie, und viele Ak­ti­vis­t*in­nen aus den frühen Zeiten stehen noch heute an ihrer Seite. Mit dieser Vergangenheit will sie keinen klaren Bruch vollziehen. Und zum Faschismus fällt ihr vor allem ein, dass sie damals ja noch gar nicht geboren war.

Aber zu Benito Mussolini, zum Duce, hat sie sich nie geäußert.

Positiv nie – das wäre auch selbstmörderisch. Doch sie hat auch nie negativ über ihn gesprochen. In ihrem Buch verurteilt Giorgia Meloni die Rassegesetze von 1938, doch im Stil einer Alice im Wunderland, die nicht recht weiß, wer diese Gesetze aufgelegt hatte.

Sie sagt aber, in ihrer Partei sei „kein Platz für die Nostalgiker des Faschismus“.

In ihrer Wählerschaft spielt der harte Kern der Faschismus-Nostalgiker kaum eine Rolle – in den Reihen der in der Partei Aktiven dagegen schon. Die meisten FdI-Wähler betrachten sich weder als faschistisch noch als antifaschistisch. Dabei hilft ihnen, dass Italien seine Vergangenheit viel weniger aufgearbeitet hat als Deutschland. So konnte das Bild entstehen, dass Mussolinis Faschisten gleichsam vom Mars gekommen sind, in ein von braven Leuten bewohntes Land.

Und wie sieht es bei denen aus, die in der Partei aktiv sind?

Die stehen anders zur Vergangenheit. Nur ein Beispiel: Am 28. Oktober 2019 trafen sich diverse Funktionäre in der Region Marken zu einem Abendessen, um des Jahrestags von Mussolinis Marsch auf Rom zu gedenken. Dabei war auch ein Politiker, der ein Jahr später für FdI bei den Regionalwahlen antrat und zum Präsidenten der Region Marken gewählt wurde, ohne dass ihn je der Bannstrahl Melonis gegen die Nostalgiker getroffen hätte. Mir fällt in der Tat kein einziger Fall ein, in dem sie gegen „Nostalgiker“ in der Partei wirklich vorgegangen wäre. Marine Le Pen in Frankreich war da härter – sie hat diverse „Nostalgiker“ aus dem Rassemblement National geworfen.

Die Wissenschaftlerin

Sofia Ventura, 58, ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Bologna.

Davor hat sie Angst

Vor der Inkompetenz einer rechten Regierung und deren fehlendem Bewusstsein für die Funktionsweise einer wahren, liberalen Demokratie.

Das gibt ihr Hoffnung

Dass die Italiener begreifen könnten, wie (un)fähig die Rechte an der Regierung ist. Und, dass die Linke nach der zu erwartenden Niederlage endlich aufwachen und einsehen muss, dass es nicht ausreicht, Machtpositionen in Staat zu besetzen, um Konsens in der Wählerschaft herzustellen.

Meloni legt auch großen Wert auf die Behauptung, dass von ihr keine Gefahr für Europa ausgehe. Was ist wirklich ihre Haltung zur EU?

„Für Europa“ war Meloni immer schon – allerdings für ein „anderes Europa“, für das „Europa der Völker“. Da liegt der Akzent auf der nationalen Souveränität. Und sie will, ganz wie Polen oder Ungarn, auch nichts von dem Vorrang des europäischen Rechts gegenüber dem nationalen Recht wissen. Damit hakt sie die europäische Integration im Kern ab. Und ihre gemeinsamen „europäischen Werte“ sind auch keineswegs die Werte der Aufklärung, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sondern die Werte des „christlichen Europa“. Mit einem föderalen Europa kann sie gar nichts anfangen, sie spricht davon, bei der „Konföderation der Staaten“ haltzumachen.

Entsprechend sehen ihre Freundschaften aus.

Sie ist Teil eines radikal rechten Netzwerks, über Europa hinaus. Dazu gehören auch die US-Republikaner, und auch Steve Bannon, der schon Gast von FdI-Veranstaltungen war. Mit einem liberalen, einem sozialen Europa hat das nichts zu tun. Und jetzt steht sie zwar klar auf der Seite der Ukraine, aber das Russland Putins galt ihr immer als Vorbild bei der Verteidigung der traditionellen christlichen Werte.

Was hat Europa also im Falle ihres Wahlsiegs zu erwarten?

Vor allem, dass sie Chaos anrichtet. Die zentrale Frage ist: Wie lange bleibt sie an der Macht? Davon hängt ab, wie viel Schaden sie anrichten kann. Sie wird sich ziemlich sicher in vielen Fragen als Gegnerin der EU-Kommission profilieren wollen, allein schon, weil sie zu Hause zeigen will, dass sie die italie­nischen Interessen gegen die multinationalen Konzerne, gegen die Hochfinanz, gegen die Brüsseler Bürokraten hochgehalten hat. Am Ende wird auch sie Kompromisse suchen, aber anders als Mario Draghi dürfte sie in Europa ganz gewiss nicht als freundlich gesinnt wahrgenommen werden. Draghi, Emmanuel Macron, Olaf Scholz verstehen einander – mit Meloni wird das nicht so sein.

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