Christian Ströbeles politische Karriere: Ein liberaler Radikaler

Christian Ströbele war ein linker Bürger. Er bewegte sich im Spannungsfeld zwischen den Polen linksegalitärer Ideale und bürgerlichem Individualismus.

Schwarzweißaufnahme von Christian Ströbele, rechts eine schwere Ledertasche in der Hand, links einen aktenordner umter dem Arm

Christian Ströbele, immer freundlich und zugewandt, 1980 vor dem Landgericht in Berlin-Moabit Foto: AP

Christian Ströbeles Arbeitswohnung liegt am Holsteiner Ufer in Berlin-Moabit. Eine große Wohnung, Erdgeschoss. Im Sommer 2015 stand er dort am Fenster und blickte über die Spree hinweg auf die wuchtige Glasfront des Hochhauses auf der anderen Seite des Ufers. Dort residierte damals das Bundesinnenministerium. Bis 2005 konnte von dort oben, aus der luftigen Höhe des 20. Stocks, Otto Schily auf Ströbeles Kanzlei hinunterschauen. Schily, mit dem Ströbele als RAF-Anwalt viel verbunden hatte und von dem ihn danach viel trennte. Ströbele war der staatsskeptische Streiter für Bürgerrechte, Schily der harte Law-and-Order-Minister.

Ströbele hat als Bundestagsabgeordneter in fünf Untersuchungsausschüssen den Missbrauch von Macht aufgedeckt, verurteilt, angeprangert. Teil einer Regierung war er nie, nie im inneren Zirkel der Macht. Als Rot-Grün 1998 die Wahl gewonnen hatte, hat er spöttisch gesagt, fast alle in der grünen Partei wollten nun etwas werden, Staatssekretär, Minister, Fraktionschef. Fast alle, er nicht. Sein Luxus war die Unabhängigkeit. Der Preis dafür war, nie ganz oben zu sein.

Immer jungenhaft frisch

Ströbele war ein political animal. Politik war für ihn, so hat er es selbst gesagt, eine Droge. Wäre er nicht doch gerne dort oben gelandet, an den Schalthebeln der Macht, wo alle Politik hinstrebt? Ströbele war damals im Sommer 2015 75 Jahre alt, er hatte weißgraue Haare und noch immer etwas Jungenhaftes, Frisches an sich. „Nein“, sagte er später. „Nur wenn ich das, was ich wollte, hätte durchsetzen können.“ Es war ein Satz ohne Koketterie.

Ohne Christian Ströbele gäbe es diesen Text nicht – nicht in der taz. Es gäbe diese Zeitung vielleicht nicht mehr. Er hat in den chaotischen ersten Monaten 1979 und den Jahren danach viel getan, um das Spontiprojekt taz zu stabilisieren. Er war kostenloser Rechtsbeistand, wenn die Polizei die Redaktion durchsuchte. Er hat die Redaktion mit Kuchen und Brötchen versorgt und schrieb bei endlosen Sitzungen Protokolle. Er war, so eine Redakteurin im Rückblick, eine Mischung aus Rudi Dutschke, dem Papst und Uli Hoeneß, also moralische Instanz und (alternativer) Patriarch, der notleidenden Redakteuren auch mal einen einträglichen Nebenjob besorgte.

Gegen das Kapital

Noch wichtiger war er 1991, als die Redaktion, entnervt von miesen Löhnen und Arbeitsbedingungen, sich nach einem Investor sehnte. Endlich Schluss mit Selbstausbeutung und Selbstorganisation endlich normal werden. Ströbele aber, immer für das Kollektiv und gegen das Kapital, für das Alternative und gegen die Anpassung an die Marktlogik, half entscheidend mit, dass die taz keine Zeitung wie alle anderen wurde, sondern eine Genossenschaft. Hätte sich 1991 die Redaktion durchgesetzt, es gäbe die taz längst nicht mehr. Sie wäre mit Sicherheit bei der ersten Zeitungskrise wegen roter Zahlen kalt beerdigt worden.

Ströbele ist in der Geschichte der bundesdeutschen Linken in vielen Rollen aufgetreten. Aktivist und Anwalt, Abgeordneter und Demonstrant. Er war ein 68er, allerdings ein eher untypischer. Denn ihn führte nicht die erleuchtende Lektüre von Marx oder Marcuse zur Bewegung, sondern die lodernde, auch nach Jahrzehnten noch frisch wirkende Empörung über den Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. Ein Einzelner war Opfer staatlicher Gewalt geworden, Medien und Politik verschleierten die Tat.

Den Einzelnen gegen den Staat verteidigen

Die Fallhöhe zwischen dem Anspruch, eine Demokratie zu sein, und dieser Reaktion mobilisierte bei ihm ein tiefes Misstrauen gegenüber der Bundesrepublik. Zum Befürworter einer sozialistischen Revolution, die bei ihm nie mehr als eine plakative Formel war, wurde er nicht, weil er marxistischer Teleologie glaubte, sondern aus Entsetzen, dass die westdeutsche Demokratie ihren eigenen Standards Hohn sprach. Sein Ethos war kein revolutionäres, sondern im Kern ein liberales: Man muss den Einzelnen gegen den Staat verteidigen. Und den Staat immer vom Individuum aus denken.

Ströbele war Mitbegründer des ersten Anwaltskollektivs der Bundesrepublik und RAF-Anwalt. Er galt den Konservativen als Staatsfeind und wurde unter dem Verdacht, RAF-Helfer zu sein, verhaftet. Er war ein Mann der Bewegung, er zweifelte radikal an den Institutionen. Wie die Linksalternativen insgesamt war er so Teil eines dialektischen Prozesses – nämlich die Gegenmacht, die dem Staat und seinen Institutionen misstraute, sie reformierte und demokratisierte.

Als „Terrorist“ angefeindet

Er war 20 Jahre lang Parlamentarier. Fleißig, akribisch, effektiv. Im Bundestag war er ein polemischer, talentierter Redner. Sein geistesgegenwärtiger Zwischenruf „Mit oder ohne Koffer“ in der CDU-Spendenaffäre beendete 1999 Wolfgang Schäubles Karriere vorerst. Es war der folgenreichste Zwischenruf der deutschen Parlamentsgeschichte. Ströbele teilte aus – und wurde von der Union auch mal als „Terrorist“ und „Drecksau“ angefeindet. Als er 2017 den Bundestag verließ, war er von fast allen respektiert, auch den Konservativen.

Im Jahr 1999 wollte er in das PKGr, das parlamentarische Gremium, das die Geheimdienste kontrolliert. Er war in den 1970er Jahren vom Verfassungsschutz zeitweise rund um die Uhr überwacht worden. Dass er nun die Dienste überwachen sollte, war auch persönliche Genugtuung. Ein CDU-Mann ätzte damals, Ströbele im PKGr sei, als würde man den Teufel zum Papst machen. Ströbele war dann 17 Jahre drin, so lange wie kein zweiter Abgeordneter.

Er fehlte auf fast keiner Demo

Der entscheidende Moment seiner politischen Karriere kam 2001. Er rebellierte gegen die von der rot-grünen Regierung getragene Beteiligung der Bundeswehr am Afghanistankrieg. Den Glauben von Joschka Fischer & Co, dass die Bomben der westlichen Alliierten Afghanistan Frieden bringen würden, hielt er für eine Illusion. Er hatte recht damit. Die zusehends stromlinienförmigen Grünen bestraften den Abweichler und verwehrten ihm einen sicheren Listenplatz. Ströbele eroberte 2002 das Direktmandat in Kreuzberg-Friedrichshain, als erster Grüner überhaupt.

Es war die Geburtsstunde seines Images: einer gegen alle. Der Störenfried, der Anti-Establishment-Mann, der sich nicht anpasst und nicht verbiegen lässt. Und der damit Erfolg hat. Er fehlte auf fast keiner Demo in Berlin. Ein Berliner AL-Politiker fragte ihn mal, ob „er noch immer gegen sich selbst demonstrieren gehe“. Für Ströbele aber waren Bundestag und Straße keine Gegensätze, sondern zwei Foren der Demokratie. Er kultivierte den Habitus des Unangepassten. Er fuhr mit seinem alten Rad zum Bundestag, während die Minister in schwarzen Limousinen kamen. Die Ex-Alternativen trugen schicke Anzüge, Ströbele trug Jeans.

Er dachte immer praktisch

Diese Rolle des Antipoden, des Robin Hood, birgt die Gefahr, zum Rechthaber zu werden, der vom Feldherrenhügel überlegener Moral verächtlich auf den politischen Betrieb hinabschaut. Diese Pose findet man manchmal bei Linken, vor allem wenn sie glauben, über einen in politischer Theorie begründeten exklusiven Zugang zur Wahrheit zu verfügen. Ströbele war vor diesem Abgrund weitgehend gefeit. Politische Theorie war nicht sein Metier – er dachte immer praktisch. Er agierte auch als Politiker oft wie ein Anwalt, der für seine Mandanten das Beste herauszuholen versucht.

Er war der prinzipientreue Einzelkämpfer, kritisch gegen Kapitalismus, Militär, Staat, der im Bundestag konsequent gegen alle Auslandseinsätze der Bundeswehr stimmte. Aber jenseits davon machte er auch pragmatisch-politische Deals. Zu rot-grünen Regierungszeiten half er dabei, Schilys rigide Antiterrorgesetze unauffällig zu entschärfen. Er war eben nicht nur der ewige Rebell, sondern facettenreicher. Ein linker Bürger, der sich im Spannungsfeld zwischen zwei Polen bewegte: den linksegalitären, kollektiven Idealen und dem Bürgerlichen, Individualistischen, Solitären.

Radikale Skepsis gegenüber dem Staat

Bei den Grünen, die schon länger keine linke Partei mehr sind, erschien er immer mehr als Relikt aus einer Vorzeit, die mit dem Jetzt nicht mehr viel verband. Das neue grüne Bürgertum ist geschmeidiger und anpassungsfähiger. Die neuen grünen Bürger misstrauen der Macht nicht mehr, sie sind auf eine unheimlich selbstverständliche Art mit ihr vertraut und verschmolzen. Die Skepsis gegenüber Staat und Kapitalismus, die den linken Bürger Ströbele antrieb, gilt ihnen als altmodisch und vorgestrig. Sie sind flexibler, weniger deutsch, nicht so protestantisch ernst wie Ströbele. Das linke Bürgertum, dessen Motor Protesten­ergie war, verschwindet von der Bühne.

So findet man das Widerspenstige, Eigensinnige heutzutage nicht mehr bei Grünen oder Linksliberalen. Die radikale Skepsis gegenüber dem Staat scheint die Seiten gewechselt zu haben, hin zu Rechtslibertären und Leuten wie Wolfgang Kubicki.

Ströbele war ein Solitär, der das oft allzu gemütliche bundesdeutsche Selbstbild störte, eine nette, zivile Republik geworden zu sein, die ihre NS-Vergangenheit bewältigt hatte. Er war ein kritischer Geist, der nicht in Dogmatismus erstarrte. Nach seinem Tod bleibt eine Leerstelle.

Vom Autor erschien 2016 im Berlin Verlag „Ströbele. Die Biografie“

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