Einstufung des Pflegegrads: Hindernis Bürokratie

Wer Angehörige versorgt, kann finanzielle und personelle Unterstützungen beantragen. Oft fehlt dazu aber unter der Belastung Wissen und Kraft.

Der Finger einer Hand auf einem Kuchenteller

Wenn die Eltern oder ­Part­ne­r plötzlich zum Pflegefall werden, muss viel bewältigt werden Foto: Ann‑Christine Jansson

Eine zu niedrige oder gar keine Einstufung, Widerspruch, Klage vor dem Sozialgericht – wenn der Medizinische Dienst (MD) den Pflegegrad von Menschen einstuft, kommt es häufig zu Problemen für die Betroffenen. Die Konsequenzen tragen nicht nur die Personen mit Pflegebedarf, sondern auch die Pflegepersonen, also jene, die unbezahlte Sorge- und Pflegearbeit leisten. Denn ist eine Person mit Pflegebedarf nicht mehr in der Lage, sich selbst zu organisieren, übernehmen dies meist Nahestehende oder Angehörige. Dabei können sie zwar Unterstützung bekommen. Die Schwierigkeit liegt für viele aber darin, den längeren Atem zu haben, die Kraft, diese Hilfen einzufordern – und notwendige Informationen zu sammeln.

Sich selbstständig und aktiv zu informieren, wenn man gerade erst dabei ist zu realisieren, was mit dem eigenen Kind passiert – für das Paar Anja* und Flo* war das kaum zu bewältigen. „Das ging alles so schnell, sodass wir uns nur irgendwann geschockt gefragt haben: Was passiert mit uns?“, sagt Anja. Mittlerweile hat Emil, das 5-jährige Kind der beiden, den vierten Chemoblock hinter sich, bald steht eine OP an. Da Emils Gesundheitszustand schwankt, lebt die Familie auf dem Sprung: morgens gerade noch zu Hause, abends vielleicht schon wieder auf Station.

Aktuell hofft die Familie auf die Einstufung von Emils Pflegegrad, um mindestens eine Haushaltshilfe bezahlen zu können. Der ausstehende Termin mit dem MD bereitet der Mutter Sorgen: „Der Termin liegt genau vor Emils OP, und gerade hat er ein Hoch. Ich habe Angst, dass er dann zu niedrig eingestuft wird, sich sein Zustand nach der OP aber verschlechtert.“

Auch die möglichen Umstände der Pflegebegutachtung beunruhigen die Mutter. Für gewöhnlich kommen dafür Pfle­ge­gut­ach­te­r*in­nen des MD zu den*­der Versicherten nach Hause und prüfen anhand von Richtlinien, wie selbstständig diese im Alltag agieren können.

Gilt es, die Pflegebedürftigkeit eines Kindes zu prüfen, würden diese mit den Fähigkeiten von Gleichaltrigen verglichen, so der MD auf seiner Webseite. Dort beschreibt er auch seine Funktion als sozialmedizinischer Beratungs- und Begutachtungsdienst für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung im gesetzlichen Auftrag. Er wird beispielsweise bei der Begutachtung von Reha-Anträgen hinzugezogen, prüft Qualitätsvorgaben zum Beispiel in Krankenhäusern und eben auch die Pflegebedürftigkeit von Personen in der häuslichen Versorgung.

Falsche Einstufung

„Ich habe ein Herz für alles, was mein Emil noch kann. Mich dann vor ihn zu stellen und einer fremden Person aufzulisten, was er alles nicht mehr kann – das zerreißt mich“, sagt Anja. Lieber würde sie sich mit dem oder der Gut­ach­te­r*in auf neutralem Boden treffen und berichten. „Manchmal denke ich auch, das mit dem Pflegegrad einfach sein zu lassen“, sagt Anja. Mit diesem Gefühl ist sie nicht allein: Auch anderen Pflegepersonen fehlt oft die Kraft und die Zeit, sich das nötige Wissen im Internet zusammenzusuchen, geschweige denn reguläre Beratungszeiten wahrzunehmen.

Hinzu kommt, dass manche Betroffene den Eindruck haben, falsch eingestuft worden zu sein. Eine falsche Einstufung durch den MD kostet Pflegepersonen Zeit und Energie. Davon berichtet auch Bianca*, deren Eltern 2021 abwechselnd im Krankenhaus waren: „In dieser Zeit habe ich angefangen, den ganzen Papierkram zu übernehmen, was ich ein wenig bereue, weil das bis heute noch sehr viel ist“, sagt sie.

Gemeinsam mit ihren Brüdern organisierte Bianca parallel zu ihrer Erwerbstätigkeit die Pflege der Eltern, kümmerte sich um Vollmachten und stellte für beide den Antrag auf einen Pflegegrad. „Mein Vater hat Pflegegrad 1 bekommen. Meine Mutter keinen“, sagt Bianca. Sie empfand diese Einstufung damals als unpassend und wandte sich daraufhin an die gerichtlich zugelassene Rentenberaterin im Teilgebiet der Pflegeversicherung, Karin Svete. Regelmäßig wird die Beraterin von Pflegepersonen kontaktiert, weil die Anträge pflegebedürftiger Angehöriger abgelehnt wurden oder sie die niedrige Einstufung des Pflegegrades bemängeln.

Svete erlebt immer wieder, dass die Stimmen der anwesenden Pflegepersonen beim Besuch vom MD nicht berücksichtigt werden: „Viele Pflegebedürftige sagen zum Beispiel: Ich kann mich noch waschen. Und wenn dann die Angehörigen die Aussage korrigieren, weil sie Hygiene halt doch jeden Tag übernehmen müssen, gehen die Gutachter vom MD da nicht drauf ein.“ Stattdessen würden diese dann nur die Aussage der versicherten Person notieren.

Rücklauf der Fragebögen

Der MD widerspricht der Darstellung, dass Angehörige nicht miteinbezogen werden, ausdrücklich. Zwar sei es so, dass die Gut­ach­te­r*in­nen zunächst versuchten, mit dem oder der Versicherten zu sprechen. Eine häufige Abschlussfrage sei jedoch: Ist alles angesprochen worden oder wurde etwas Wichtiges nicht erwähnt? Die Versichertenbefragung 2021 wurde von dem Marktforschungsunternehmen M+M Management + Marketing Consulting GmbH ausgewertet und zeichnet ein positives Bild: 86,7 Prozent der pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörigen, die befragt wurden, seien mit den persönlichen Pflegegutachten durch den MD zufrieden, 4,1 Prozent unzufrieden.

Der an ALS erkrankte Wolf­gang*­ ge­hört zu den Unzufriedenen. Er wurde bereits vor einigen Jahren eingestuft. Wolfgang wird nichtinvasiv beatmet und unter anderem von seiner Partnerin Claudia* gepflegt, die auch Teil seines Assistenzteams ist. Dieses kann er sich dank des sogenannten Arbeitgebermodells selbst zusammenstellen, sodass Claudia keine Berührungspunkte mit dem MD haben muss. Wolfgang erleichtert das: „Der erste Herr vom MD hatte selbst einen Bruder mit ALS und hat mir daher schnell den Pflegegrad 4 gegeben. Als es dann um die Höherstufung ging, war eine unfreundliche und meiner Meinung nach inkompetente Dame da, die meinen Antrag ablehnte.“ Wolfgang wehrte sich und legte mithilfe einer Fachkraft eines Pflegestützpunktes Widerspruch ein – mit Erfolg.

Woher kommt die große Diskrepanz zwischen Befragung und persönlicher Erfahrung? Erklären lässt sie sich vielleicht durch den überschaubaren Rücklauf der Fragebögen der Versichertenbefragung 2021 mit 39,5 Prozent.

Doppelbelastung der Angehörigen

Im Fall von Biancas Eltern sah Karin Svete Unstimmigkeiten in den Gutachten sowie zweifelhafte Fragetechniken des MD. „Ich mache das jetzt genau 20 Jahre. Es ist auffällig, dass sich in der zweiten Jahreshälfte die Widersprüche häufen. Ab jetzt geht’s wieder los und ich kriege einen nach dem anderen rein“, sagt Svete. Der MD wertet laut eigenen Angaben die Daten der Pflegegutachten nicht monatlich aus, sodass sich Svetes Vermutung nicht objektiv prüfen lässt.

Zu einer Neueinstufung von Biancas Mutter kam es noch nicht. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich, sodass sie in Kurzzeitpflege gehen musste. Damit fiel sie aus dem System. Denn der MD begutachtet für einen Pflegegrad nur im häuslichen Umfeld. Für Bianca entsteht so damit aber erst einmal keine Entlastung: Auch wenn die Mutter aktuell „gut aufgehoben“ sei, bleibt die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf für Pflegepersonen wie Bianca eine Herausforderung.

Verschiedene Modelle der Pflegezeit sollen Ar­beit­neh­me­r*in­nen in ihrer Doppelfunktion durch teilweise oder vollständige Befreiung beziehungsweise Arbeitszeitreduktion entlasten. Unter bestimmten Voraussetzungen seien pflegende Personen laut Verbraucherzentrale in der Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung abgesichert – eine davon ist, dass die Person mit Pflegebedarf mindestens Pflegegrad 2 hat.

Darüber hinaus bildet der Pflegegrad 2 mit eine Voraussetzung für die Beantragung von Pflegegeld: Personen in einer Pflegesituation können so entscheiden, wer sie pflegt, und Angehörige für ihre Tätigkeiten entschädigen. Aktuell liegt das Pflegegeld zwischen 316 Euro (Pflegegrad 2) und 901 Euro (Pflegegrad 5). „Das, was ich da bekommen würde, ist ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu dem, was hier täglich anfällt“, sagt Claudia, die in ihrer Funktion als Assistentin durchschnittlich dreimal die Woche 24 Stunden offi­ziell im Einsatz für Wolfgang ist.

Wenn Kol­le­g*in­nen ausfielen, würde sie einspringen, das seien sogar einmal sieben Tage am Stück gewesen. Das Ende einer Schicht bedeutet für Claudia aber nicht Feierabend, sondern dass ihr Teilzeitjob anfängt oder sie in ihre Rolle als Partnerin schlüpft – und jeglichen Schriftverkehr und organisatorische Aufgaben für Wolfgang übernimmt. Von Institutionen wie dem MD wünscht sie sich nicht monetäre Unterstützung, sondern praktische Hilfe: „Ich als Pflegeperson brauche Dinge, dir mir konkret helfen, sei es Ansprechpersonen oder sei es eine Unterstützung für die Bürokratie. So klappert man alle möglichen Stellen nach Informationen ab, ohne sicher sein zu können, ob sie stimmen.“

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