Wie der Krieg das Theater verändert: Flucht vor der Propaganda

Tschulpan Chamatowa war ein Theaterstar in Russland. Jetzt spielt sie in Riga ein Solo, das kritisch auf die russische Politik blickt.

Eine Schauspielerin mit erschrockenem Gesicht drückt sich an eine Wand

Tschulpan Chamatowa spielt „Post ­Scriptum“ – ein Kommentar zu Russlands Krieg in der Ukraine Foto: Janis Deinats

Mitte August stand sie noch an ihrem angestammten Platz in Riga, die „Sowjetische Mutter Heimat“ mit wehendem Kleid, in Beton gegossen. Auch die drei massiven Soldaten waren noch da, umgeben von einem Gitter. Jetzt sind sie weg. Riga hat sich endlich vom sowjetischen Siegesdenkmal befreit. In der Diskussion war der Abbau schon lange, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den Prozess definitiv beschleunigt.

Im Jaunais Rīgas teātris hat man ein Stück herausgebracht, „Post Scriptum“, das sich als Kommentar zu diesem Krieg versteht – gespielt von einer der bekanntesten russischen Film- und Theaterschauspielerinnen, Tschulpan Chamatowa. Dass eine Russin in Riga auf der Bühne steht, ist zurzeit alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Um die Rezeption dieses Krieges in Lettland besser zu verstehen, ist ein Exkurs in die Vergangenheit notwendig. Der beste Ort dafür ist das Lettische Okkupationsmuseum, das sich seit den späten 90er Jahren in der Rigaer Altstadt befindet. Hier wird an die sowjetische und deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs erinnert und an die gewaltsame Eingliederung des Baltikums in die UdSSR nach Kriegsende. Die Jahre 1941 und 1949 stehen in Lettland für zwei große Wellen der Deportation lettischer BürgerInnen in die Lager des Gulag.

Die Nachkriegszeit zeichnete sich durch eine aggressive Ansiedlungspolitik aus. Der russischsprachige Bevölkerungsanteil wuchs massiv. Die Zuzügler lebten privilegiert, erhielten Vergünstigungen, die der lokalen lettischsprachigen Bevölkerung vorenthalten wurden.

Zwei Sprachen trennen die EinwohnerInnen Lettlands

Noch immer sind 35 Prozent der zwei Millionen EinwohnerInnen Lettlands russische Muttersprachler. Vor allem die Älteren unter ihnen haben auch nach 1991, als Lettland seine Unabhängigkeit proklamierte, kein Lettisch gelernt. Nicht wenige leben bis heute in einer Parallelgesellschaft und haben bis vor Kurzem ihre Informationen überwiegend aus dem russischen Staatsfernsehen bezogen. Dessen Ausstrahlung wurde im Zuge des Ukrainekriegs in Lettland verboten.

Auf der anderen Seite gibt es die russischen EmigrantInnen, die vor und nach dem 24. Februar 2022 Riga als Exil gewählt haben, darunter Tschulpan Chamatowa. Sie hat Russland im März verlassen. „Ihr Stellenwert in der russischen Gesellschaft – und damit der Symbolgehalt ihrer Emigration und ihres Engagements gegen den Krieg – ist vergleichbar mit dem von Marlene Dietrich im Zweiten Weltkrieg“, erklärt die Chefdramaturgin des Jaunais Rīgas teātris, Margarita Zieda.

Denn Chamatowa hat bis zu ihrer Ausreise vom System Putin profitiert, was Film- und Theatergagen angeht. Sie hatte sich noch 2012 öffentlich für die Wiederwahl Putins zum Präsidenten starkgemacht. Dann aber setzte bei ihr ein Prozess des Umdenkens ein. So positionierte sie sich im Jahr 2020 durch ihre empathische Darstellung der Raissa Gorbatschowa in einer Moskauer Inszenierung des Putin-Kritikers Alvis Hermanis klar gegen das offizielle Geschichtsnarrativ von Gorbatschow als Totengräber der Sowjetunion.

Persönlicher Kommentar zum russischen Angriffskrieg

Alvis Hermanis ist Intendant des Jaunais Rīgas teātris. Er nahm die Emi­gran­tin Chamatowa in sein Ensemble auf. Zusammen kreierten sie ein Mosaik aus Youtube-Videos, fiktiven und dokumentarischen Texten und nannten es „Post Scriptum“. Es ist der persönliche Kommentar der beiden zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Tschulpan Chamatowas Bühnenraum, ein Wohnzimmer, ist klein, fast klaus­tro­pho­bisch. Mit vier Schritten kann sie ihn durchmessen: eine altmodische Tapete, ein durchgesessenes Sofa und ein Röhrenfernseher (Bühne: Kristīne Jurjāne). Chamatowas Figur stellt sich dem Publikum als Nadja vor. Eine einsame 57-jährige Russischlehrerin der Gegenwart, die den Fernseher als Mittel gegen die erdrückende Stille braucht.

Gerade läuft eine russische Unterhaltungssendung, in der eine Frau mittleren Alters eine Melodie intoniert, die jeder sowjetisch sozialisierte Mensch kennt: das Kinderlied vom blauen Waggon. Der selbst verfasste Text aber handelt von der atomaren Auslöschung der Welt durch russische Atombomben. Chamatowas Nadja schaltet den Fernseher aus.

Der selbst verfasste Text zum Kinderlied handelt von atomarer Auslöschung

Die Schauspielerin spielt nun Stawrogin, eine Hauptfigur aus Dostojewskis „Dämonen“. Exzerpiert wird hier ein Romanausschnitt, worin Stawrogin Kindesmissbrauch gesteht und beschreibt, wie er sich daran ergötzt, das neunjährige Mädchen vor seinen Augen zugrunde gehen zu sehen – bis zum finalen Selbstmord. Unausgesprochen entsteht eine Verbindung zwischen Stawrogins Machtfantasien und den Vorgängen in Butscha oder Irpin.

Regisseur Alvis Hermanis lässt seine Darstellerin auch die russische Propaganda, die vor allem über das staatliche Fernsehen verbreitet wird, kommentieren, indem Chamatowa den Fernseher auf den Boden stellt und schließlich zur Wand dreht.

Anschlag auf das Dubrowka-Theater in Moskau

Chamatowa spielt ihre Figuren auf eine sehr eindrückliche Art zurückgenommen. Sie schafft es, Figuren und Text Raum zu geben und zugleich als Schauspielerin auf eine unaufgeregte, aber intensive Weise präsent zu sein. Im letzten Teil der 70-minütigen Inszenierung verkörpert sie wieder Nadja, die vom Anschlag auf das Moskauer ­Dubrowka-Theater während einer Vorstellung des Musicals „Nord-Ost“ am 23. Oktober 2002 berichtet. Sie war mit ihrer Familie unter den ZuschauerInnen.

Die Bühnenerzählung stützt sich auf Texte der 2006 ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja. Ihr Mann, erinnert sich Nadja, war von Anfang an überzeugt, dass niemand käme, sie zu retten. Er starb, weil staatliche Sicherheitskräfte Gas in den Zuschauersaal pumpten. Im Programmheft wird ein Bezug zum Krieg in der Ukraine hergestellt, indem man Fotos des zerstörten Mariupoler Theaters zeigt und so auf Parallelen zwischen beiden Schauspielhäusern hinweist.

Chamatowa spielt auf Russisch. Das Stammpublikum hält sich an die ­lettischen Übertitel. Einige ZuschauerInnen aber sind russischsprachig. Dramaturgin Margarita Zieda ist beeindruckt: „Die sprachliche Durchmischung des Publikums ist ein totales Novum.“

Die russische Propaganda verbreitet unterdessen folgende Meldung: „Der Lebensstandard von Tschulpan Chamatowa ist dramatisch gesunken. Sie möchte nach Russland zurück.“

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