Zugreisen in Osteuropa: Eisenbahn-Poesie

Lendenbraten als Einstiegsdroge: Für Liebhaber von Zugreisen in Mittel- und Osteuropa geht es nur um die schönste Strecke.

Gedeckter Tisch in einem Speisewagen

Gedeckter Tisch im Speisewagen des Sonderzuges Bernstein in Polen, Juli 2003 Foto: Christian Thiel/imago

Der Speisewagen der tschechischen Eisenbahn České dráhy ist Kult. Wer könnte davon besser berichten als der tschechische Schriftsteller und Drehbuchautor Jaroslav Rudiš, der es mit seiner „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“, einer Liebeserklärung an die Bahn, auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat? Was also kann Besseres passieren als im EC 175 von Berlin nach Dresden einen Platz im Esszimmer auf Schienen zu ergattern? Der legendäre Lendenbraten Svícková, serviert mit sechs Knödelscheiben und in einer sämigen Gemüsesauce, ein traditionelles Gericht der böhmischen Küche, ist noch nicht, wie leider immer häufiger, aus. Rudiš behauptet, er würde dort im Zug so gut zubereitet wie von seiner Oma.

Zufällig bedient auch noch Pavel Peterka, der Lieblingskellner von Rudiš, der von ihm im Frühjahr 2021 in einem Text über Zugreisen in Coronazeiten auf einer ganzen Seite in der Berliner Zeitung gefeiert wurde. Peterka sei ein guter Beobachter, Poet und Theatermensch, der sich aber dann doch für die Eisenbahn entschieden habe, schrieb Rudiš. Und über den Speisewagen schwärmte er: „Für mich, der Züge, Bier und Kneipengespräche liebt, ein Traum.“

Und dann, es klingt unglaublich, steigt an diesem Nachmittag im Oktober 2021 in Dresden-Neustadt auch noch Rudiš höchstselbst hinzu. Er hat am Abend eine Lesung im Dresdner Verkehrsmuseum. Und die zehn Minuten zwischen Neustadt und Hauptbahnhof will er nutzen, um Peterka kurz zu begrüßen. Dann entschließt er sich spontan, doch noch die Elbe entlang bis Bad Schandau zu fahren und mit dem Gegenzug zurück, weil sonst die Zeit für Svícková und ein frisch gezapftes Bier nicht gereicht hätte. Jaroslav Rudiš trägt den Umweg fix noch ein in seinen Interrail-Globalpass, der ihn kurz zuvor noch nach Luzern, Zürich, München, Zug, Berlin, Pirna und Glashütte geführt hat.

Die Geschichte über den tschechischen Speisewagen, Rudiš und Peterka und den Lendenbraten als Einstiegsdroge fürs Zugreisen in Mittel- und Osteuropa und darüber hinaus gibt Gelegenheit, ein paar Grundprinzipien zu erklären: Für echte Liebhaber geht es nicht um die schnellste, sondern um die schönste Strecke. Die Bordgastronomie – wenn denn vorhanden – ist fast überall besser als die Mikrowellenküche der Deutschen Bahn, beispielsweise auch in der polnischen Wars-Gastronomie oder bei der ungarischen MÁV, die ebenfalls die Strecke von Berlin Richtung Prag über Dresden bedient. Und allüberall, im aktuellen Fall umgangen mit dem Interrail-Ausweis, herrscht bei den Eisenbahngesellschaften ein Tarifwirrwarr, bestimmt durch verschiedene Vorteilskarten, Vorbuchungsfristen und unterschiedliche Tarife je nach Buchung im Herkunfts- oder im Zielland.

Fachleute wie Peter Koller von der Berliner Bahnagentur Schöneberg können ein Lied davon singen. Als Missionare verstehen sie sich, um Leuten das Bahnfahren schmackhaft zu machen – gegen die Kostensenkungsmentalität von Großkonzernen wie der DB. Die derweil der Bahnagentur Schöneberg und anderen Spe­zia­list:innen wie dem Kopfbahnhof in der Berliner Yorckstraße, den Bahnfüchsen in Berlin-Köpenick oder auch Gleisnost in Freiburg die Provisionen gestrichen hat.

Das Unmögliche möglich machen

Trotzdem Dinge möglich machen, die unmöglich erscheinen: Wie kommt man mit dem Zug aus dem Baltikum, etwa aus Riga, nach Berlin? Welche Nachtzug-Verbindungen gibt es noch und zu welchem Preis? Wo bucht man Zugtickets von Eriwan nach Tiflis? Fahren seit dem Krieg überhaupt noch Züge in der Ukraine? Wie kommt man auf dem Landweg nach Georgien? Ist es noch möglich, wie vor Jahren mit alten schwedischen Zügen, eine Notbremse oder „Nödbroms“ im Abteil, von Sarajevo zur kroatischen Hafenstadt Ploče zu fahren? Nein, um mit der letzten Frage zu beginnen: Weder gibt es die alten schwedischen Waggons. Noch geht es bis an die Adria.

Der Zug aus Sarajevo auf landschaftlich spektakulärer Strecke endet in Mostar, wie überhaupt das Schienennetz von Bosnien-Herzegowina in die Nachbarländer nur noch stillgelegte Verbindungen hat. Und bei allzu tüftligen Anfragen verzweifeln dann auch die traditionsreichen Reisebüros für Bahnliebhaber:innen. Mal fehlt es an Fahrradabstellplätzen, mal sind Liegewagen schwer buchbar – und es ist bis kurz vor Reisebeginn unklar, ob es doch nur einen Sitzplatz gibt.

Bei allen Widrigkeiten: Die Sache hat Suchtpotenzial. Der Autor dieses Textes erlebte das schon vor Jahrzehnten, als er sich in Budapest bei den Ungarischen Staatsbahnen eine Buchfahrkarte für die einwöchige Schlafwagenreise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Peking über Moskau mit Anschluss bis nach Budapest erwarb. Für 215 Rubel und 68 Kopeken, umgerechnet knapp 150 D-Mark. Die Fahrscheine waren in Budapest deutlich günstiger als etwa in Ost-Berlin oder Peking, weil der ungarische Forint höher bewertet war als die DDR-Mark oder der chinesische Yuan. Heute kostet ein Bettplatz allein für die Strecke Peking-Moskau mindestens 830 Euro.

Reisen mit Suchtpotenzial

Schon bei der damaligen Reise 1988 gab es kulinarische Momente: Erst war ein chinesischer Speisewagen im Einsatz, dann ein mongolischer und schließlich ein sowjetischer. Es gab Kaviar und Tee aus dem Samowar. Die Babuschkas an den Unterwegsbahnhöfen mit ihren gesammelten Beeren kamen hinzu. Der Autor tauschte damals einen US-Dollar beim halbstündigen Aufenthalt in Ulan-Bator in Landeswährung und konnte damit eine ganze Palette mit Cremetorte erwerben. Was schon deswegen gut war, weil er mit Mitreisenden Stunde um Stunde in seinen Geburtstag hineinfeiern konnte – mehrere Zeitzonen wurden auf der Ost-West-Route genommen.

In seinem 2021 erschienenen Zugreisen-Buch schreibt Jaroslav Rudiš: „Eigentlich ist es besser, von Ost nach West zu fahren und nicht umgekehrt, wie es die meisten Reisenden machen. Also von Wladiwostok oder Pjöngjang nach Moskau und weiter nach Wien und Berlin. Denn wegen der Zeitverschiebung ist auf diese Weise jeder Tag um eine Stunde länger und nicht kürzer. So hat man viel mehr von der Reise.“ Hm. Eine Rechnung, die aktuell nicht zu überprüfen ist, weil seit dem Krieg gegen die Ukraine keine Züge aus Deutschland oder Österreich nach Russland fahren. Aber das Prinzip hat sich nicht verändert: Schnellzüge sind manchmal nützlich, doch immer auch ein Kompromiss.

Unbeständige Traveller-Tipps

Traveller-Tipps sind ständig zu aktualisieren, ohne sie geht es bei Bahnreisen vor allem im Osten auch heute kaum: Wer zum Beispiel von der serbischen Hauptstadt Belgrad zur montenegrinischen Küstenstadt Bar fahren möchte, muss sein Ticket in Serbien kaufen. Internetbuchungen sind, so berichten Expert:innen, nicht möglich, und hiesige Reisebüros können auch nicht weiterhelfen. Mindestens elf Stunden dauert die Fahrt auf der 476 Kilometer langen Gebirgsstrecke, die als eines der Prestigeprojekte des ehemaligen Jugoslawiens gilt, mit 254 Tunneln und 435 Brücken.

Der Autor ist die Strecke in den Nullerjahren gefahren und erinnert sich, dass im Speisewagen noch richtig gekocht wurde. Das bestellte Wiener Schnitzel wurde in der Küche frisch geklopft. Aussteigen in Užice wäre ein sinnvoller Stopp gewesen: Denn von dort geht es mit Bus oder Taxi rasch nach Mokra Gora. Wo wiederum die serbische Eisenbahn die Museumsbahn Sargan Acht betreibt, mit dem Filmbahnhof Golubići. Der Filmemacher Emir Kusturica drehte hier „Das Leben ist ein Wunder“, auf dem Berg des Ortes hat er ein Kulissendorf errichten lassen. Von Mokra Gora aus könnte man weiter fahren mit dem Bus nach Sarajevo. Und von dort, siehe oben – nein, nicht an die kroatische Adria, sondern nur bis Mostar. Dafür verbinden neuerdings moderne Züge der tschechischen Privatbahn Regiojet Prag mit den kroatischen Städten Zagreb, Rijeka und Split.

Kampf gegen Windmühlenflügel

Die traurige Tendenz freilich beim Eisenbahnreisen in Osteuropa: Vieles, was vor Jahren noch möglich war, geht heute nicht mehr. Nachtzüge von Kaunas oder Vilnius nach Berlin? Gestrichen. Die Verbindung von Thessaloniki ins nordmazedonische Skopje? Gestrichen. Die ukrainische Bahn bemühte sich im Sommer 2022 tapfer, den Zugverkehr im Land aufrecht zu erhalten und bot sogar Kurswagen nach Odessa an. Vorbuchungen sind allerdings extrem schwierig und die Frist dafür drastisch verkürzt, viele Züge ausgebucht.

An der Strecke Budapest-Belgrad wurde im selben Jahr gebaut – auch in die serbische Hauptstadt ging es bis auf Weiteres nur mit dem auf dem Balkan populären Fernreisebus. „Es ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel“, sagt Eisenbahnliebhaber Koller. Er ist ernüchtert, weil er beobachtet, wie die traditionsreiche Kultur des Eisenbahnreisens zu Gunsten von bestimmten Hochgeschwindigkeitszügen an Bedeutung verliert. Und kann sich noch heute in Rage reden, weil Bahn-Sanierer Hartmut Mehdorn einst die Speisewagen abschaffen wollte. Bahnfahren versteht Koller als Aktion gegen den Neoliberalismus.

Dieser Text kann kein Kursbuch sein. Aber erwähnt werden sollen doch einige spannende Strecken, die der Autor vor Jahren und manchmal immer wieder befuhr – und die hoffentlich eine Zukunft haben: von Batumi an der georgischen Schwarzmeerküste in die Hauptstadt Tiflis, von Moskau nach Riga, mit der Elektritschka in Armenien, mit dem Schienenbus ins tschechische Altvatergebirge, von Peking nach Pjöngjang, in den Osten der Slowakei, von Wroclaw mit dem Nachtzug ins westukrainische Lwiw, Umspurung auf die breitere Spur in der Ex-Sowjetunion eingeschlossen. Auch dazu Rudiš: „Von Wien ist es viel näher nach Lwiw als nach Paris.“

Wider dem Neoliberalismus

Und was ist mit dem Baltikum? „Rail Baltica“ nennt sich ein Projekt, das eine schnelle Bahnverbindung von Mitteleuropa bis in die estnische Hauptstadt Tallinn schaffen soll. Doch die Fertigstellung wird immer wieder verschoben und war zuletzt für 2026 angekündigt. Lange war und ist in dieser Region mächtig Improvisation notwendig: Zwischen Daugavpils im Süden Lettlands (dem dort geborenen amerikanischen Maler Mark Rothko ist in der Stadt ein Museum gewidmet) und Turmantas im Norden Litauens wurde der Zugverkehr nach jahrelanger Pause erst 2018 wieder aufgenommen.

Unterwegs in Litauen kommt man sowohl am Atomkraftwerk Ignalina als auch am nur wenige Kilometer entfernten Nationalpark Aukštaitija vorbei. Später auf der Strecke hinter Vilnius hapert es seit der Coronakrise auf der erst 2016 eröffneten neuen Verbindung von Kaunas in Litauen ins polnische Białystok. Aktuell im Sommer 2022 fuhren die Züge nur am Wochenende – und das, obwohl Kaunas Kulturhauptstadt Europas ist. Wegen der schlechten Anschlüsse geht es weiter über Warschau nach Berlin nur mit Übernachtung.

Aber womöglich ist das alles halb so schlimm – wenn Eisenbahnreisen im traditionellen Sinn überhaupt möglich bleiben. Es gibt eine Philosophie der Eisenbahner:innen, die besagt, dass Zugverspätungen ein Gewinn sind – weil man mehr Zeit unterwegs und an Bahnhöfen verbringen darf, die möglichst noch eine Kneipe haben und wo es Espresso oder Bier gibt. „Unser Europa ist klein“, schreibt der aus einer Eisenbahnerfamilie stammende Rudiš, „viel kleiner als man denkt. Man braucht nur einen Bahnanschluss.“ Im Umkehrschluss: „Die Orte ohne Bahnanschluss sind abgeschnitten.“ So gibt Rudiš beispielsweise einer malerischen Gebirgsbahn, der Wocheinerbahn, den Vorzug vor dem Schnellzug nach Triest. Er macht dann Halt in der Bar Luna am Bahnhof im slowenischen Sežana, in der noch ein Kalender mit einem Bild des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Tito hängt. „Wenn man mit der Wocheinerbahn reist, reist man gegen die Zeit.“

Es mag melancholisch klingen. Aber vielleicht tut die Liebe zur Eisenbahn gerade in schnelllebigen Zeiten gut. Rudiš hat der Legende nach Frank-Walter Steinmeier überredet, seinen Staatsbesuch im August 2021 in Tschechien mit dem Zug zu unternehmen. Rudiš gehörte zur Delegation und schleppte den Bundespräsidenten schließlich zum Lendenbraten-Verzehr in den Speisewagen. Die České dráhy bedankten sich auf ihre Weise – und ließen den aus Lomnice nad Popelkou im Böhmischen Paradies stammenden und in Berlin lebenden Autor kürzlich sogar das Vorwort für die Speisekarte des Zugrestaurants schreiben. Er notierte: „Nirgends bin ich mehr zu Hause als im Zug.“

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