Augen zu und durch

Die Reihe „Tokyo Reels“ auf der documenta fifteen zeigt historische Propagandafilme. Hat sich die antisemitischen Werke niemand durchgesehen?

Die archivierten Filmrollen sehen erst einmal harmlos aus, doch abgespielt können sie vor Israelhass strotzen Foto: Foto:Subversive Film

Von Jakob Baier

In den vergangenen Wochen erinnerten die Reaktionen der documenta-fifteen-Verantwortlichen auf die antisemitischen Inhalte in diversen Kunstwerken bisweilen an das Verhalten von Kindern, die glauben, sie seien für ihre Umwelt unsichtbar, wenn sie ihre Augen schließen: Was ich nicht sehe, ist nicht da.

Doch wer glaubt, der Antisemitismus sei mit der Entfernung des Wimmelbildes des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi verschwunden, der irrt. Denn immer noch ist Judenhass auf der documenta zu finden – man muss nur bereit sein, wirklich hinzusehen. Wären die documenta-Akteure mit offenen Augen durch die Schau gelaufen, wäre ihnen möglicherweise die mehrstündige Videoinstallation „Tokyo Reels“ im Hübner-Areal aufgefallen. Dort sind auf einer etwa fünf Meter hohen und sieben Meter breiten Leinwand insgesamt 20 propalästinensische Propagandafilme aus den 1970er und 1980er Jahren zu sehen, zusammengestellt von einem japanisch-palästinensischen Künstlerkollektiv. Laut der offiziellen Programmbeschreibung sollen sie „Auskunft über die weitestgehend übersehene und nicht dokumentierte antiimperialistische Solidarität zwischen Japan und Palästina geben“. Zwischen den Filmen sind die Stimmen einer Frau und eines Mannes aus dem Off zu hören, die das Gezeigte dialogisch aus der Gegenwartsperspektive reflektieren. Beide sind Vertreter/-innen des Projekts, das unter dem euphemistischen Titel „Subversive Film“ firmiert.

In den vergangenen Wochen sorgte das Kunstprojekt allein deshalb für Kritik, weil es von Masao Adachi, einem ehemaligen Mitglied der Japanischen Rote Armee Fraktion, mitinitiiert worden war. Die antisemitische Terrorgruppe hatte im Mai 1972 in der Eingangshalle des israelischen Flughafens bei Tel Aviv wahllos das Feuer eröffnet und 26 Menschen ermordet. Wer sich nun aber die Zeit nimmt, die „Tokyo Reels“ in voller Gänze zu begutachten, erkennt schnell, dass deren Unterstützung durch ein Mitglied der japanischen RAF wohl noch zu den kleineren Übeln der Videoinstallation zählt. Die „Dokumentarfilme“ strotzen nur so vor Israelhass. Sie bezeichnen die Gründung des jüdischen Staates als Resultat einer „zionistischen Verschwörung“, sie behaupten, israelische Soldaten hätten Leichen auf einem christlichen Friedhof geschändet sowie in einer Kirche Heiligtümer zerstört. Kommentar aus dem Off: „Respekt und Ehrfurcht vor den Toten wird von allen Religionen gelehrt, aber selbst das bedeutete den Zionisten nichts.“

Nicht nur hier schöpfen die Filmemacher aus einem jahrhundertealten judenfeindlichen Mythenreservoir. In einer anderen Pseudodokumentation wird behauptet, Israel würde Bomben an Spielzeug drapieren, um gezielt „unschuldige Kinder“ anzulocken und zu ermorden. Zudem wird die Falschbehauptung verbreitet, dass israelische Soldaten das Massaker von Sabra und Schatila selbst begangen hätten. Während des Libanonkriegs 1982 drangen libanesische Falangisten in die beiden palästinensischen Flüchtlingslager im Westen von Beirut unter dem Vorwand ein, gegnerische PLO-Kämpfer festzunehmen. Die israelische Armee, die die beiden Stadtviertel zuvor umstellt hatte, ließ die christlichen Milizen passieren und griff nicht ein, als die Falangisten das Feuer eröffneten und mehrere Hundert der dort lebenden Menschen erschossen. Nach Bekanntwerden der Ereignisse ging ein Aufschrei durch die israelische Gesellschaft. Eine israelische Untersuchungskommission attestierte dem damaligen Verteidigungsminister Ariel Scharon, beim Massaker untätig geblieben zu sein. Am Ende musste Scharon von seinem Amt zurücktreten. Die für die Erschießungen hauptverantwortlichen libanesischen Milizionäre und ihre Anführer wurden nie belangt. Die Bilder des Massakers gingen um die Welt. Nun zeigt die Videoinstallation auf der documenta äußerst explizite Aufnahmen von teils verwesten Leichen, verbunden mit der Lüge, israelische Soldaten hätten selbst geschossen.

Zwar wird auf der Webseite der documenta darauf hingewiesen, dass die Filme „nicht für Zu­schaue­r*in­nen unter 18 Jahren geeignet“ seien, vor Ort findet sich jedoch kein solcher Hinweis. Dass man es mit dem Kindeswohl ohnehin nicht ganz so genau zu nehmen scheint, zeigen weitere Filme der Videoinstallation. Diverse Kurzfilme sind zu sehen, in denen für den Märtyrertod von palästinensischen Kindern geworben wird. Zwei Filme zeigen ein Ausbildungscamp, in dem palästinensische Kinder für den bewaffneten Kampf gegen Israel trainiert und auf das Lebensziel eines heldenhaften Märtyrertods abgerichtet werden. Ein anderer erzählt von einer Gruppe unter zehnjähriger Jungen, die sich für den militärischen Kampf gegen Israel entscheiden, nachdem einer von ihnen von einem israelischen Panzer aus erschossen wurde. In der finalen Szene springen die Kinder in voller Kampfmontur und mit Maschinengewehren bewaffnet über brennende Trümmer. Dazu wird der Satz eingeblendet: „THE ONLY WAY TO END“.

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Propagandafilme Lügen und Falschinformationen verbreiten, um diese politisch nutzbar zu machen. Propaganda soll Ressentiments schüren, um potenziell Gleichgesinnte zum Kampf gegen den gemeinsamen politischen Feind aufzuwiegeln. Gerade deshalb müssen solche (historischen) Machwerke zumindest kritisch kommentiert werden – wenn schon nicht von den Machern der Installation, dann wenigstens von den documenta-Verantwortlichen. Doch bei den „Tokyo Reels“ ist genau das Gegenteil der Fall. In ihren Off-Kommentaren, die zwischen den gezeigten Filmen zu hören sind, schwärmen die beiden Sprecher geradezu von dem Gezeigten. Hier und da verraten sie, welcher von den Filmen ihr „Lieblingsfilm“ sei. Pseudodokumentationen, in denen Lügen über israelische Soldaten verbreitet werden, bezeichnen sie als „Solidaritätsfilme“ („films of solidarity“). Filme, in denen der Märtyrertod kleiner Kinder glorifiziert wird, werden als „sehr literarisch“ („very literary“) charakterisiert, die gezeigten Kinder zu „Freiheitskämpfern“ („freedom fighters“) verklärt. Hätte man eine so widerliche Glorifizierung von Kindersoldaten im liberianischen Bürgerkrieg gutgeheißen? Ein Missbrauch von Kindern zu Propagandazwecken scheint offenbar gerechtfertigt, solange dies dem Kampf gegen Israel dient.

Solch Machwerke müssen kritisch kommentiert werden

Anstatt die antisemitische Propaganda zu dekonstruieren und eine kritische Position einzunehmen, werden die menschenfeindlichen Inhalte auf der documenta fifteen affirmativ reproduziert. Auf diese Weise wird den alten Propagandafilmen, die von den Kommentatoren auch als „prophetisch“ bezeichnet werden, aktuelle Relevanz und Glaubwürdigkeit attestiert. Das Wort „Israel“ nehmen die Kommentatoren gar nicht in den Mund; stattdessen sprechen sie von „inside 1948“. Anhand einer solch abstrakten Umschreibung Israels, die das Gründungsjahr des jüdischen Staates benennt, wird deutlich: Israel besitzt aus Sicht der Kommentatoren kein Recht zu existieren.

Die Abfolge von immer neuen antisemitischen Skandalwerken bei der documenta fifteen findet kein Ende – auch weil die Verantwortlichen es ablehnen, sich mit den Kunstwerken und dem aus ihnen heraussprudelnden Antisemitismus auseinandersetzen. Anstatt die antisemitischen Machwerke in der gebotenen Akribie zu begutachten, schaut man lieber weg und hofft, dass es schon nicht so schlimm werden wird. Wird der Antisemitismus aber unübersehbar, sinnieren die Verantwortlichen darüber, wie judenfeindlich Menschen aus dem sogenannten globalen Süden sein dürfen. Dabei ist die Antwort schnell gefunden: Sie dürfen es genauso wenig sein wie Menschen aus dem sogenannten globalen Norden.

Die Schuld für die immer wieder aufzufindenden Antisemitismus auf der documenta tragen nicht nur die Künstler, die ihn in ihre Werke einfließen lassen, sondern auch all diejenigen, die ihn ignorieren, relativieren und bagatellisieren. Die documenta fifteen läuft noch bis zum 25. September 2022. Viel Zeit bleibt den Verantwortlichen nicht, endlich hinzusehen und die betroffenen Kunstwerke umgehend aus dem Verkehr zu ziehen. Denn danach werden sie womöglich – prämiert als offizielle documenta-Beiträge – weltweit auf Ausstellungen herumgereicht. Bevor es dazu kommt, sollte man die gezeigten Werke als das benennen, was sie sind: antisemitisch.

Der Autor forscht an der Universität Bielefeld zu Antisemitismus in der Kulturproduktion.