Systemische Gewalt im Sport: Missbrauch für Medaillen

Der Ex-Wasserspringer Jan Hempel wirft seinem ehemaligen Trainer Vergewaltigung vor. Es ist dies nur einer von vielen Gewaltskandalen im Sport.

Turmspringer Jan Hempel im Portrait

Jahrelang missbraucht: Jan Hempel, einer der erfolgreichsten deutschen Wasserspringer Foto: Stefan Hesse/dpa

BERLIN taz | Es ist vielsagend, wenn eine Recherche niemanden überrascht. Schon wieder ist massive sexualisierte Gewalt und Vertuschung im Spitzensport ans Licht gekommen. Wieder wurde zuvor intern geschwiegen, abgewiegelt, ignoriert. Business as usual im organisierten Sport. Im ­Fokus des neuerlichen Skandals steht der Deutsche Schwimm-­Verband (DSV). Eine monatelange ARD-Recherche, die seit Donnerstag in der Mediathek einsehbar ist, präsentiert als Kronzeugen den ehemaligen Weltklasse-Wasserspringer Jan Hempel, der 1996 Silber und 2000 Bronze bei Olympia holte. Hempel gibt an, 14 Jahre lang von seinem Trainer Werner Langer schwer sexuell missbraucht worden zu sein, zum ersten Mal mit elf Jahren.

Langer beging 2001 Suizid. Schon 1997 hatte Hempel sich nach eigenen Angaben der damaligen ­Bundestrainerin Ursula Klinger anvertraut. Zwar wurde der Trainer daraufhin entlassen, allerdings unter dem Vorwand seiner Stasi-Vergangenheit. Er durfte unfassbarerweise weiter im Schwimmsport arbeiten – beim österreichischen Verband. Unter anderem der heutige Bundestrainer der Wasserspringer, Lutz Buschkow, soll die Vorwürfe gekannt und vertuscht haben.

Kein Einzelfall, belegt die ARD: Schwimmtrainer Stefan Lurz durfte, trotz mehrerer mutmaßlicher sexueller Übergriffe gegen Schwimmerinnen, Bundestrainer werden. Und auch nach rechtskräftiger Verurteilung und einer Anweisung des Amtsgerichts, dem Schwimmsport fernzubleiben, arbeitet er offenbar weiter beim Schwimmverein Würzburg 05, wo sein Bruder Thomas Lurz Präsident ist, als kaufmännischer Angestellter.

„Ich habe es viele Jahre am eigenen Leibe spüren müssen, dass dem DSV nur der sportliche Erfolg wichtig ist“, so Jan Hempel. „Es wird einfach über Leichen gegangen und wenn man nicht mitzieht, fliegt man raus.“ Dass ein derart prominenter Sportler mit Klarnamen spricht, ist bemerkenswert. Und keine Ausnahme mehr. In jenem riesigen Sumpf sexualisierter Gewalt im US-Turnen, wo seit 2016 insgesamt 265 Frauen dem Teamarzt Larry Nassar sexuelle Übergriffe vorwarfen, haben Olympiasiegerinnen wie Gabby Douglas, McKayla Maroney und Superstar ­Simone Biles öffentlich gemacht, dass Nassar sie missbrauchte.

Anhaltende Quälerei

In Deutschland machten 2020 Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz und andere Turnerinnen psychischen Missbrauch, Schikane und körperliche Quälerei durch Trainerin Gabriele Frehse in Chemnitz publik. Frehse wurde erst gekündigt, dann wies das Arbeitsgericht die Verdachtskündigung wegen handwerklicher Fehler ab. Der Verein und einige Eltern und Sportlerinnen stellten sich hinter die Trainerin.

So zahlreich sind die Fälle sexualisierter, körperlicher und psychischer Gewalt, dass viele Be­ob­ach­te­r:in­nen das System Sport mit jenem der katholischen Kirche vergleichen. Patriarchale Monopol-Organisationen, in denen fast ausschließlich Männer die Macht halten, wo ­Wagenburg-Mentalität, vielfache Abhängigkeitsverhältnisse, große persönliche Nähe durchs Ehrenamt und wenig Einblick von außen herrschen.

Hinzu kommen spezifische Charakteristika des Sports: Viel Körperkontakt bei Übungen, autoritäre Kultur im Training, Karriererisiken in einer ohnehin kurzen Laufbahn bei Nestbeschmutzung und Trainer:innen, die gewohnheitsmäßig über die Körper der Ath­le­t:in­nen verfügen. Dass dabei sexualisierte und andere Gewaltformen häufig zusammengehen, zeigt etwa der Fall der französischen Spitzenschwimmerin Casey Legler, die 2019 von sexuellem Missbrauch durch einen Physiotherapeuten, aber auch von rücksichtslosem Zwang zum Weitermachen trotz Verletzungen und Wegschauen etwa bei Essstörungen und Doping berichtete. Ein vielfaches Zurichten.

Je­de:r dritte Ka­der­ath­le­t:in betroffen

Vor allem der Skandal im US-­Turnen und der große Missbrauchsskandal im englischen Männerfußball, die beide 2016 publik wurden, haben den zuvor oft angemahnten, aber weitgehend ignorierten Eisberg sexualisierter Gewalt im Sport ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Soziologin Bettina Rulofs hat für das von 2014 bis 2017 laufende Projekt „Safe Sport“ in einer Studie unter anderem 1.800 Ka­der­ath­le­t:in­nen zu sexualisierter Gewalt befragt.

Je­de:r Dritte gab an, im Sport sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Endlich nun bewegt sich etwas. Auch, weil Betroffene durch Vorbilder den Mut fassen, zu sprechen, sind lawinenartig Systeme von Missbrauch weltweit publik geworden. Durch Social Media können Ath­le­t:in­nen zudem verstärkt Plattformen außerhalb der Kontrolle von Vereinen nutzen.

Das unabhängige Zentrum für Safe Sport, das das Bündnis Athleten Deutschland e.V. seit langem fordert und das mittlerweile auch im Koalitionsvertrag verankert ist, begrüßt nun endlich auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB). Es droht allerdings die Gefahr der Unterfinanzierung: In der Machbarkeitsstudie des Bundes ist nur ein sechsstelliger Betrag vorgesehen, im Vergleich zu 23 Millionen Dollar beim US-Vorbild. Der DOSB betont zudem, „die originäre Verantwortung“ beim Schutz vor Gewalt sehe man weiterhin beim Sport. Gut, dass sie bald nicht mehr ausschließlich da liegt.

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