Vom Glück, Schach-Fan zu werden: Kristallblume und Disney

Es ist eine große Freude, sich einen neuen Sport zu erschließen. Beim Schach steht gerade ein Generationenwechsel an.

Magnus Carlsen in nachdenklicher Pose

Doch bald Konkurrenz für ihn in Sicht? Magnus Carlsen Foto: Anton Vaganov/reuters

Eine große Freude ist es, sich einen neuen Sport zu erschließen. Nach und nach erfährt man von den vielen kleinen, absurden Geschichten und den großen Skandalen, lernt die Prot­ago­nis­t*in­nen besser kennen mit all ihren Eigenheiten und Schrullen und verteilt quasi täglich die eigenen Sympathien und Antipathien neu. Ein ehemaliger Präsident des Weltverbandes, der seit Jahrzehnten teils zur Hauptsendezeit im Fernsehen festen Glaubens behauptete, von Außerirdischen entführt worden zu sein? Na ja!

Wer sich wie viele hunderttausend andere zu Beginn der Pandemie für Schach entschieden hat, hatte besonders viel Glück. Was aktuell im Schach vor sich geht, ist tatsächlich ein Generationenwechsel. Es begann mit dem Weltmeisterschaftskampf zwischen Magnus Carlsen und Ian Nepomniachtchi, in dem Ersterer Zweiteren in einer veritablen Nervenschlacht zermürbte. Magnus Carlsen hat nun über Jahre das Spiel dominiert, und oft machten in engen Partien seine unglaubliche Präzision im Endspiel, sein Durchhaltevermögen und sein Wille, den kleinsten Vorteil aus dem Spiel herauszuwringen, den Unterschied. Nach den Partien um die Weltmeisterschaft sahen Carlsen und Nepo aus, als stünden sie kurz vor dem Burnout. Carlsen ließ da schon anklingen, dass er sich diese Tortur eines Weltmeisterschaftskampfes nicht mehr antun wolle, außer es ginge gegen einen Vertreter der jungen Generation.

Dafür in Frage kam allerdings nur Alireza Firouzjia, zu dem Zeitpunkt 18 Jahre alt. Der Herausforderer Carlsens sollte in einem Kandidatenturnier ermittelt werden, Firouzja galt als einer der Favoriten. Aber er kam nie richtig in die Partien; am Ende wurde er Sechster von acht. Dafür gelang Ian Nepomniachtchi ein sagenhafter Durchlauf mit teils brillanten Siegen, unter anderem gegen Firouzja, und ohne eine einzige Niederlage. Zweiter hinter Nepo wurde Ding Liren, ein Mann von zartester Bescheidenheit.

Hört man ihn in Interviews, hat man bisweilen den Eindruck, eine zerbrechliche Kristallblume dabei zu beobachten, wie sie in der Sonne funkelt. Während alle anderen Teilnehmer des Turniers mit unterstützender Entourage angereist waren, kam Ding Liren ganz allein; es wurde berichtet, dass er sich nach den Partien auf sein Zimmer zurückzog, um dort Tütensuppen zu essen. Als er gefragt wurde, wie er einen freien Tag verbracht habe, antwortete er verlegen lächelnd, er habe sich einen schönen Disney-Film angesehen. Ich glaube nicht, dass es viele Spitzensportler gibt, die ein derart liebenswürdiges, freundliches Wesen haben wie Ding Liren.

Versprechen von großem Zauber

Nach Magnus Carlsens Verzicht auf die Titelverteidigung war oft zu hören, dass damit der Weltmeistertitel vorerst entwertet sei. Unbestritten ist Carlsen der mit Abstand weltweit stärkste Spieler aktuell. Das Match zwischen Nepomniachtchi und Liren allerdings verspricht eines von großem Zauber zu werden: einen Favoriten auszumachen, fällt zumindest mir sehr schwer. Und es ist auch klarer als sonst, dass dies ein Titel auf Zeit sein wird.

Kürzlich fand die Schach­olympiade in Indien statt, und es war ganz das Turnier einer jungen Generation. Gold holte sich Usbekistan mit Nodirbek Abdusattorov am ersten Brett. Lange Zeit sah es auch sehr gut für die zweite Mannschaft Indiens aus, in der die drei Teenager Gukesh, Nihal Sarin und Praggnanandhaa ein unglaubliches Turnier spielten.

Es ist oft geunkt worden, dass Computeranalysen dem Sport nachhaltig schaden könnten, weil es zu immer mehr langwierigen Unentschieden kommen würde; Schlafschach sozusagen. Das hat sich nicht bewahrheitet: es waren angriffslustige, spektakuläre und hochkomplizierte Partien, die man in Indien sah. Es ist fürwahr eine fantastische Zeit, Schachfan geworden zu sein.

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