Ein Jahr Taliban-Herrschaft: Hippie-Trail reloaded

Im westafghanischen Herat finden sich noch Spuren des Abenteuertrips der 70er Jahre. Heute kommen die Westler, um sich eine billige Niere zu kaufen.

Ein Bewohner von Herat zeigt die Narbe nach Entnahme einer Niere

Ein Bewohner von Herat zeigt die Narbe nach Entnahme einer Niere Foto: Francesca Borri

Wenn Sie wirklich was Afghanisches wollen, nehmen Sie das hier“, hatte der Antiquitätenhändler in Herat gesagt und mir zwischen britischem Militariakrempel einen alten „Lonely Planet“ gereicht: den ersten Reiseführer von 1973 für den Hippie-Trail nach Asien. Der spätere Reiseführerkonzern Lonely Planet verdankt den Abenteuertrips junger Westeuropäer auf dem Landweg nach Indien seine Existenz.

Aus dem Iran kommend, war Herat die erste afghanische Station. Die Stadt ist fast noch so, wie Afghanistan ohne die vielen Kriege wäre. Doch trägt der erste Junge, der uns begegnet, keine Schulbücher in seiner Tasche, sondern Plastikreste. Er durchsucht den Müll nach Verwertbarem. Denn der Krieg ist hier noch nicht vorbei. Als das US-Militär 2001 Afghanistan angriff, litt hier jeder Dritte an Hunger. Als die Amerikaner vor einem Jahr abzogen, war es bereits jeder Zweite. Und jetzt, mit den Sanktionen gegen das Talibanregime, leben 95 Prozent der Bevölkerung unter dem Existenzminimum.

Wir stellen uns Afghanistan immer als rückständiges Land voller ewiger Gewalt und Elend vor. Aber die Straße mit den Antiquitätenläden neben Herats berühmter Jami Masjid, der Freitagsmoschee, erzählt eine andere Geschichte: „Unser Ruin waren die Ausländer,“ sagt der Antiquitätenhändler Riza Habibi. Damit meint er den Einmarsch der Sowjets 1979. „Afghanistan war großartig. Und besonders Herat, das Florenz unserer Renaissance. Es war ein Hotspot für Künstler. Und Künstlerinnen“, sagt er.

Er ist in seinem Laden umgeben von alten Bestecken, Teppichen, Edelsteinen und zwei Flaschen Wein. Denn Afghanistan war berühmt für seine Trauben und den daraus gewonnenen Wein. „Die Islamisten fordern eine Rückkehr zu den Traditionen und Ursprüngen. Aber wer entscheidet, was der Anfang ist?“, sagt er, als sein Sohn eine Rubab, eine Laute, enthüllt. Er schließt die Tür, bevor der Sohn das afghanische Nationalinstrument spielt. Denn das ist jetzt verboten, er könnte dafür eingesperrt werden.

Auf alten Polaroidfotos lächeln Mädchen in Shorts an der Bar des Behzad-Hotels. „Es stand genau dort“, sagt Mahdi Sakhi, 61, und zeigt auf einen Laternenpfahl. „Wir haben dort bis zum Morgengrauen getanzt“, sagt er, während sein 19-jähriger Sohn mich anstarrt. Er hat noch nie einen Westler getroffen, der kein Soldat war. Er selbst kann nur noch mit Krücken laufen, seit er auf eine Mine getreten ist.

Die Zahl der Blindgänger und Minen wird auf etwa 10 Millionen geschätzt. Sie sind die Überreste eines Krieges, der nach dem 11. September 2001 geführt wurde, um Osama bin Laden zu fangen. Der allerdings wurde später in Pakistan getötet, für einen Angriff, der von Bürgern Saudi-Arabiens ausgeführt wurde – beides mit den USA verbündete Länder: so viel zur Nato aus afghanischer Perspektive. Von jedem getöteten Nato-Soldaten gibt es einen Namen und ein Foto, manchmal gar einen Zeitungsartikel. Von den afghanischen Kriegsopfern gibt es nicht einmal eine Zahl. Denn diese Toten hat nie jemand gezählt.

Das Hotel Pardees, die andere damals beliebte Unterkunft in Herat, existiert noch. Jetzt hängt am Eingang die Flagge der Taliban. Niemand hatte vor einem Jahr am 15. August 2021 die Flucht von Präsident Ashraf Ghani von Kabul ins Ausland vorhergesehen, nicht einmal die Taliban. So kamen sie über Nacht wieder an der Macht. Doch nach einem Jahr scheinen sie noch immer keine klaren Vorstellungen zu haben. So wurden die Schulen für Mädchen geschlossen. Aber zwei Töchter des Talibansprechers Suhail Shaheen studieren selbst im katarischen Doha. Wird es bald Wahlen geben? Ein Parlament? Und was ist mit den Gerichten? Oder der Wirtschaft?

Bisher regieren die Taliban nur per Dekret. Es wäre Sache der Ulema gewesen, der Islamexperten, zu erklären, was ein Emirat ist. Aber als sie sich schließlich im Juni versammelten, erklärten sie nur, Afghanen hätten das Recht, nach afghanischer Art zu leben. „Es gibt immerhin eine Errungenschaft, die alle anerkennen: Sicherheit“, sagt der Obstverkäufer Gholam Karimi. „Es ist das erste Mal, dass unsere Kinder Herat sehen. Wir lebten doch die letzten Jahre nur noch verbarrikadiert zu Hause.“ Tatsächlich laufen hier viele Afghanen mit Google Maps herum.

Sie machen jetzt Selfies nicht nur bei der Zitadelle, auf dem Basar oder an einem anderen der 780 Denkmäler, die Herat zum Unesco-Weltkulturerbe haben werden lassen, sondern auch vom unscheinbaren Betonhaus von Ismail Khan, einem von den Amerikanern unterstützten Warlord. Herat war sein Leben, doch die Taliban zwangen ihn ins Exil.

Auch das für Shakespeare-Aufführungen bekannte Theater wurde dem Erdboden gleichgemacht. Aber erst vor fünf Jahren. „Denn hier geht es vor allem um sozialen Druck“, sagt einer der Schauspieler. Er ist inzwischen Taxifahrer.

„Herat war so weltoffen. Aber jetzt ist ganz Afghanistan sehr konservativ. Die Taliban sind ein Spiegel davon. Sie haben die Burka nicht eingeführt oder den Frauen aufgezwungen. Die Burka ist auf dem Land verbreitet. Aber ehrlich gesagt tragen die Frauen kaum Burka, sie bleiben lieber gleich zu Hause“, sagt er. „Die Taliban sollten sich lieber auf die Wirtschaft konzentrieren.“

Ihre Dresscode-Verordnungen sind eigentlich nur Empfehlungen. „Man versteht nie, was erlaubt ist und was nicht“, sagen mir zwei 26-jährige Frauen unter knöchellanger schwarzer Kleidung im Fifty-Fifty, einem Hamburger-Restaurant. Dort konnte man einst das beste Kabuli essen: Fleisch, Reis und Rosinen, das typisch afghanische Gericht. Heute sitzen die jungen Männer hier links, die jungen Frauen rechts – getrennt durch eine Wand. Auf den Polaroids von früher sind sie zusammen in Pferdekutschen unterwegs.

Jahrzehnte nach dem Hippie-Trail und ein Jahr nach Abzug der letzten Nato-Truppen kommen inzwischen wieder Europäer nach Herat – um Nieren zu kaufen. Außerhalb des Zentrums bröckelt die Stadt. Hier geht es von Marmorhäusern zu Steinhäusern über, von Beton zu Backstein und Lehm. Und dann zu den Resten von Lehmhäusern, bis nach Shenshayba. Barfüßige, ungepflegte Kinder drängen sich um uns. Sie hoffen, wir bringen Brot. Vierzig Afghanen haben hier in diesem armen Viertel schon eine Niere verkauft, für je rund 2.600 US-Dollar.

Als Transplantationszentrum dient das moderne private Krankenhaus Loq­man Hakmin. Es wurde mit Geld aus Italien gebaut, 2008 eröffnet und wird weiterhin aus Rom unterstützt. Stellvertretender Leiter ist der Arzt Farid Ahmad Ejaz. Er wurde schon wegen illegalen Organhandels verhaftet, aber dann gegen Kaution freigelassen. Laut einem Medienbericht brüstete sich ein Mitarbeiter des Hospitals schon vor eineinhalb Jahren damit, dass hier in den fünf Jahren zuvor bereits mehr als eintausend Nieren transplantiert worden seien. Ein trotz Verbots sehr lukratives Geschäft.

„Ich habe jetzt überall Schmerzen“, klagt der 19-jährige Ali aus Shenshayba, den es am schlimmsten erwischt hat. „Ich habe mein Leben verkauft“, sagt er. Nach der Operation zur Organentnahme habe ihn kein Arzt besucht, schimpft er. Und zu uns Ausländern sagt er: „Ihr wolltet nur unsere Nieren.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.