Tag der ukrainischen Staat­lichkeit: Heute gibt es Reis mit Tränen

In der Ukraine ist am Donnerstag Nationalfeiertag. Derweil entlässt Präsident Selenski noch mehr Personal in politischen Machtpositionen.

Zwei Frauen stehen vor Häuserruinen, sie tragen Einkaufstaschen

Frauen warten an einer Bushaltestelle vor zerstörten Wohnhäusern in Borodianka, einem Vorort Kiews Foto: Emile Ducke/NYT/Redux/laif

KIEW taz | Erst letztes Jahr hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski den neuen Nationalfeiertag als Tag der Unabhängigkeit eingeführt. Am Donnerstag will das Land den Tag feiern, mitten im Krieg.

In allen Bezirken Kiews werden Zeremonien zum Hissen der ukrai­nischen Staatsflagge abgehalten. Kränze und Blumen sollen an Denkmälern und an den Gräbern prominenter Persönlichkeiten des ukrai­ni­schen Staates abgelegt werden: Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine, verstorbene Teilnehmer der Revolte des Maidan oder solche, die im Krieg in der Ost­ukraine starben.

Groß ist das Interesse in der Bevölkerung an dem neuen Feiertag indes nicht. Vielleicht, weil die Kämpfe an der Front unterdessen unvermindert weitergehen, mit besonders heftigen Kämpfen bei den Städten Bachmut und am Kraftwerk Uglegorsk etwa am Dienstag.

Aber auch Selenskis jüngste Vorstöße in seiner Personalpolitik werden ohne viel Aufsehens hingenommen, obwohl es eine ganze Welle an Entlassungen gab. Am Montag hatte der Präsident wieder zwei hochrangige Persönlichkeiten des Machtapparats entlassen. Generalmajor Hryhorij Halahan, Kommandeur der Spezialeinheiten der Streitkräfte der Ukraine, wurde seines Amtes enthoben. Zu seinem Nachfolger ernannte Selenski Brigadegeneral Viktor Chorenko. Halahan wurde zum ersten stellvertretenden Leiter des Zentrums für Spezialoperationen des Inlandsgeheimdienstes SBU ernannt.

Zu große Nähe zu Russland

Am selben Tag entließ der Präsident auch Ruslan Demtschenko, stellvertretender Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats. Aus gesundheitlichen Gründen, hieß es im Präsidialamt. Doch immer wieder wurden zuletzt Stimmen laut, die Demtschenko eine zu große Nähe zu Russland vorwarfen.

Bereits vor zwei Monaten hätten die US-Amerikaner der ukrainischen Führung eine Liste von Personen aus der Umgebung von Selenski überreicht, die eine Verbindung zu russischen Agentennetzwerken hätten, und da muss Demtschenko wohl dabei gewesen sein, vermutet der Politologe und Leiter des Instituts für Weltpolitik, Viktor Schlintschak, gegenüber Espreso.tv.

Selten machte Kiew indessen einen so ruhigen und friedlichen Eindruck wie dieser Tage. Die Sonne scheint, der Straßenverkehr ist entspannt, kein einziges Flugzeug, das von einem der beiden Kiewer Flughäfen abhebt. Am Fluss Dnipro liegen Männer und Frauen am Strand und sonnen sich.

Lange nicht hat Kiew einen so friedlichen Eindruck gemacht. Doch vielleicht ist es die Ruhe vor dem Sturm

Doch es könnte auch die Ruhe vor dem Sturm sein. Wer sich an den Stadtrand begibt, sieht auf einmal, dass Orte, an denen bisher HundebesitzerInnen über ungeteerte Wege schlenderten, gesperrt sind. Emsig heben an diesen Stellen olivgrün gekleidete Männer Schützengräben aus. „Das sieht ja gerade so aus, als stünde der Russe schon wieder vor der Tür“, kommentiert eine Frau, die vor einem Kiosk auf einer Bank sitzt und ein Vanilleeis verzehrt. Merklich haben in den vergangenen Wochen auch die Straßensperren zugenommen.

Kaum eine Wohnung, in der Fenster nicht mit Streifen transparenter Klebefolie überzogen sind. Im Falle einer Explosion sollen sie verhindern, dass die Glassplitter bei einer Druckwelle durch die Wohnung fliegen. Manche haben gar die Scheiben gegen transparente Plastikfolien ausgetauscht.

Kiew ist vergleichsweise leer. Doch eine Bevölkerungsgruppe ist größer geworden. Es sind die Binnenflüchtlinge aus den Orten, die in den vergangenen Tagen und Wochen von den russischen Truppen eingenommen worden sind. Maria und Inna kommen aus einem Ort, der vor Kurzem von den Russen besetzt worden ist. Sie wollten nicht unter russischer Herrschaft leben. Alles hätten die Russen niedergeschossen.

Marias 85-jährige Mutter ist bettlägerig und konnte nicht fliehen. Ihre Tochter wiederum ist an den Rollstuhl gebunden. Maria hat sich bei der Flucht für die Tochter entschieden und ist mit ihr nach Kiew gekommen, die Mutter mussten sie zurücklassen.

Telefonischer Kontakt in den Donbass unmöglich

Die Russen hätten in Windeseile ein eigenes Mobiltelefonnetz errichtet. Jetzt haben da alle Nummern eine russische Vorwahl. Und nach Russland telefonieren geht von der Ukraine nicht mehr. Internet gibt es dort nicht. Über Umwege hat sie erfahren, dass ihre Mutter kurz nach ihrer Flucht verstorben ist. Seitdem ist sie jeden Abend betrunken. Woran ihre Mutter verstorben ist, weiß sie nicht, aber sie kann es sich denken.

Die meisten Zurückgebliebenen sterben nicht an Geschossen, sie sterben, weil sie sich nicht alleine versorgen können, verhungern oder verdursten, allein gelassen in ihrer Wohnung. Gerne würden beide zurück in den Donbass, Kiew liegt ihnen nicht. Doch ihnen ist klar, dass das nicht geht, dass da nicht so schnell Ruhe einkehren wird.

„Bisher haben die Russen uns beschossen. Und nun werden die Ukrai­ner uns beschießen. Das soll ja alles zurückerobert werden.“ Und außerdem werde es im Winter im Donbass keine Heizung geben. Da könne man nicht leben, meinen sie, wenn fast überall in den Häusern das Glas aus den Fenstern gebrochen sei.

Beide haben einen Telegram-Kanal von Binnenflüchtlingen für Binnenflüchtlinge in Kiew abonniert. Da kann man immer die neuesten Informationen bekommen, wo es gerade humanitäre Hilfe, also kostenlose Mahlzeiten gibt. „Immer nur Reis, Nudeln, Zucker, Ketchup, Sonnenblumenöl und Dosenfleisch ist auf Dauer auch langweilig“, meint Inna und liest einen Beitrag einer Nutzerin des Telegram-Kanals „Kiew für Binnenflüchtlinge“ vor: „Heute gibt es bei mir Reis mit Tränen und morgen Tränen mit Reis“.

Dass am Donnerstag ein staatlicher Feiertag ansteht, interessiert nur insofern, als nicht klar ist, inwieweit da die Ausgabestellen für humanitäre Hilfe geöffnet haben. „Was heißt schon Unabhängigkeit?“, meint die eine der beiden. „Für mich heißt es, dass von mir nichts abhängt.“

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