Laura Cwiertnias Debütroman: Bildung kann tödlich sein

Laura Cwiertnia erzählt in „Auf der Straße heißen wir anders“ über vier Generationen einer armenischen Familie. Literarisch ist das eine Entdeckung.

Männerhände über Familienbildern

Nachfahren des Genzoid: Menschen, die sich die Bilder ihrer getöten Verwandten in Armenien anschauen Foto: Andy Spyra/laif

Wie soll man eine Heimat finden, an einem Ort, an dem man noch nicht war?“ Diese Frage begleitet Avi schon sein ganzes Leben. Er ist in der Türkei geboren, lebt in Bremen, fährt Taxi und hat armenische Wurzeln. Mit seiner Tochter Karla reist er nach Armenien, um dort seiner Geschichte und seiner Herkunft nachzugehen. Dazu gehört auch die Übergabe eines Erbstücks an eine ihnen unbekannte Frau. Es ist ein Armreif aus reinem Gold, den seine Mutter Maryam nach ihrem Tod hinterlassen hat.

„Auf der Straße heißen wir anders“, lautet der Titel des Debütromans von Laura Cwiertnia. Die 34-jährige Schriftstellerin und Journalistin berichtet aus eigener Erfahrung, wenn sie in ihrem Roman von vier Generationen einer armenischen Familie erzählt. Laura Cwiertnia ist Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter, wuchs in Bremen-Nord auf.

In ihrem Roman beschreibt sie, wie der türkische Völkermord an den Ar­me­nie­r:in­nen im Jahr 1915 mit schätzungsweise 1,5 Millionen Toten das Leben einer ganzen Familie verändert hat und wie dieses nationale Trauma über Generationen hinweg auf ganz unterschiedliche Art bis heute weitergetragen wird: durch Erinnerungen, durch Träume sowie durch Gefühle wie Scham, Angst und Verzweiflung.

Meryem statt Maryam

Laura Cwiertnia: „Auf der Straße heißen wir anders“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022, 240 Seiten, 22 Euro.

„Ich habe vor einigen Jahren selbst eine Reise nach Armenien mit meinem Vater gemacht. Danach entstand die Idee, einen Roman über eine ähnliche Spurensuche zu schreiben“, sagt sie bei einem persönlichen Treffen. Die Prot­ago­nis­t:in­nen in ihrem Roman stammen, wie auch die Familie von Laura Cwiertnia, aus Istanbul. In der Türkei nutzen sie auf der Straße andere Namen als zu Hause: Meryem statt Maryam, Hüssein statt Hagop und Ali statt Avi (Avedis). Warum? Weil sie Angst um ihr Leben haben. Das gilt auch für andere Minderheiten in der Türkei, wie Zaza, Griechen und Kurden. Auch sie dürften sich in diesem Roman wiederfinden. Alle, die ihre eigene Sprache nicht sprechen, ihre Religion nicht ausüben sowie ihre Kultur und Traditionen nicht pflegen durften oder konnten.

Zu Hause wird über diese Angst oft nicht gesprochen, was ebenfalls Thema in diesem Roman ist. „Auch in meiner Familie blieben alle stumm“, sagt die Autorin. Raum für dieses Schweigen gibt Cwiertnia auch ihren Protagonist:innen. Eindrücklich zeigt die Autorin, wie schon wenige Worte oder Gesten genügen, um Fragen nach der Vergangenheit im Keim zu ersticken.

Indem Laura Cwiertnia dieses Phänomen beschreibt und zu erklären versucht, bricht sie selbst dieses Schweigen. Schon allein deshalb ist der Roman ein wichtiges Werk. Aber auch erzählerisch ist er eine Entdeckung. Mit feinen Beobachtungen, ohne kitschig oder anklagend zu werden, werden darin Schicksal und Beziehungen von Tochter, Vater, Groß- und Urgroßmutter aufgefächert.

Was das Verbrechen mit Menschen macht

Die Familie ist arm, weil die Urgroßeltern während des Völkermords alles verloren und nur ihr eigenes Leben gerettet haben. Ihre Großmutter darf nicht lesen und schreiben lernen – aus Angst, dass Bildung tödliche Konsequenzen haben könnte: Die Massaker an den Ar­me­nie­r:in­nen, die Todesmärsche begannen damit, dass armenische Intellektuelle 1915 von türkischen Milizen festgenommen, gefoltert und aufgehängt wurden.

„Ich wollte zeigen, was so grausame Verbrechen mit Menschen machen – über Generationen hinweg. Und was passiert, wenn die Täter diese Verbrechen nicht anerkennen“, sagt Cwiertnia. Die Türkei leugnet den Genozid bis heute.

Die Autorin zeigt auch, wie nicht aufgearbeitete Verbrechen sich wiederholen können. In ihrem Roman schildert sie die Nacht zum 7. September 1955 in Istanbul, als türkische Nationalisten die griechische Bevölkerung attackierten und deren Geschäfte und Häuser zerstörten. „Irgendwann schneiden wir euch allen die Kehle durch“, schreit ein Nachbar der Protagonistin Maryam zu. Opfer wurden in dieser Nacht nämlich auch andere nichtmuslimische Minderheiten wie Ar­me­nie­r:in­nen und Jüd:innen. Auch die Großeltern der Autorin lebten zu diesem Zeitpunkt noch in Istanbul.

Jesiden, Kurden, Zaza und Aramäer

Parallel dazu begannen ausländische Arbeitskräfte, nach Deutschland zu emigrieren. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wurde im Oktober 1961 unterzeichnet. Wer aus der Türkei kam, wird in Deutschland bis heute meist als „türkischer Gastarbeiter“ gesehen. Was vielen verborgen blieb: Es kamen auch Jesiden, Kurden, Zaza, Aramäer, Griechen und Armenier aus der Türkei hierher. In der Hoffnung auf Arbeit – und ein sichereres Leben. Cwiertnia versucht mit ihrem Roman auch auf literarischer Ebene das Thema „Gastarbeiter:innen“ neu zu betrachten. Sie nimmt dabei vor allem Frauen in den Fokus.

„Die deutsche Perspektive auf Gast­ar­bei­te­r:in­nen ist bis heute eindimensional. In vielen Berichten klingt es noch immer so, als seien vor allem türkische Männer hierher gekommen. Doch es gab auch über 700.000 Frauen, die damals den gleichen Weg gegangen sind. Sie kamen oft allein, wie auch meine Großmutter“, sagt sie.

Dem Arbeitgeber ausgeliefert

Für ihre Recherche besuchte Cwiertnia Bibliotheken und Archive. Sie las Zeitzeugenberichte, führte Gespräche mit Forscher:innen. Und sie traf sich auch mit Frauen, die „von einer Stadt in die nächste, vom Wohnheim der Schokoladenfabrik in Frankfurt in das der Taxifirma nach Bochum, von dem Sechsbett-Zimmer der Fischfabrik in Kiel in die Arbeitswohnung der Großküche nach Darmstadt“ umziehen, wie sie in ihrem Roman schreibt.

Es ist eine Art von Menschenhandel. Frauen mussten sich, wie auch die Männer, bei ihrer Bewerbung vor deutschen Ärzten ausziehen, sich Blut und Urin abnehmen lassen. Ihnen wurden ihre Pässe weggenommen. Während der Dauer ihrer Arbeitsverträge sind sie ihrem Arbeitgeber ausgeliefert.

Im Roman heißt es: „‚Für euch Frauen stehen die Chancen besser.‘ Das hatte der Mann vom Arbeitsamt damals zu ihr gesagt. ‚Euch kriegen die Deutschen zum halben Preis.‘ Aber nur, wenn sie unverheiratet waren.“ Die damaligen Vorfälle ähneln der heutigen Ausbeutung von Sai­son­ar­bei­te­r:in­nen aus Osteuropa durch deutsche Arbeitgeber:innen.

Istanbul, Jerusalem und Jerewan

So präzise und bildlich, wie die Orte, die Gerüche, der Geschmack des Essens beschrieben sind, erinnert Laura Cwiertnias Roman an eine literarische Reportage. Unterbrochen wird sie von einzelnen Episoden aus dem Leben der Protagonisten, die in Bremen, Istanbul, Jerusalem und Jerewan spielen und Kurzgeschichten ähneln. Die Le­se­r:in­nen erfahren auf diese Weise viel über die Hintergründe der Familie, während die Prot­ago­nis­t:in­nen im Ungewissen bleiben.

Erhöht wird die Spannung auch deshalb, weil die Ereignisse nicht chronologisch, sondern im Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart erzählt werden.

Als Ich-Erzählerin schildert etwa die Tochter, Karla, wie sie Bremen-Nord in den 1990er Jahren erlebt: Das Viertel ist, genau wie ihre Familie, von Armut und Migration geprägt. Fünfzehnjährige trinken Wodka Lemon auf Spielplätzen, fahren mit dem Linienbus herum, weil sie nichts anderes mit ihrer Zeit anzufangen wissen.

Von ihrer Familie inspiriert

Wie weit sich Laura Cwiertnia selbst von ihren Prot­ago­nis­t:in­nen distanziert, möchte sie nicht verraten. Jedoch sei die Vorlage für den Roman ihre Familiengeschichte. „Vieles, was sich im Roman abspielt, ist von meiner Familie inspiriert, die Handlung hat sich jedoch beim Schreiben weg entwickelt“, sagt sie.

Hat sie während ihres Schreibens auch ein Stück Heimat gefunden? „Ich habe viele verschiedene Orte, an denen Puzzleteile meiner Identität zu finden sind. Von Bremen-Nord, wo ich groß geworden bin, über die Türkei bis nach Armenien.“

Trotz der Schwere der Themen, die darin verhandelt werden, ist „Auf der Straße heißen wir anders“ kein düsterer Roman. Im Gegenteil, er lässt die Le­se­r:in­nen immer wieder aufatmen, manchmal sogar schmunzeln. Das hat vor allem mit der Figur des Vaters zu tun. Avi, der Taxifahrer aus Bremen-Nord, ist ein Armenier, der seine Heimat verloren hat, ohne je eine gehabt zu haben.

Armenien ist ihnen fremd

Er verkörpert einen der über sieben Millionen in der ganzen Welt verstreuten Armenier:innen. Ihre Vorfahren wurden ihrer Heimat beraubt, weil dieser Völkermord auf dem historischen Gebiet Armeniens geschah. Daher ist die heutige Republik Armenien im Südkaukasus, die Teil der Sowjet­union war und 1991 unabhängig wurde, für diese Diaspora-Ar­me­nie­r:in­nen oft fremd.

Und doch finden Vater und Tochter im Roman einen Zugang zu ihrer armenischen Identität – und zueinander. Auf ihrer Reise durch Armenien, zwischen Kirchen und Klöstern, Traditionen und „dem heiligen Berg“ Ararat, von dem Avi und seine Tochter Karla fasziniert sind. Der Berg, der sich hinter der armenischen Grenze in der Türkei erhebt, ist längst zu einem Symbol für die verlorene Heimat der Ar­me­nier:­in­nen geworden. „Wusstest du, dass man unseren Berg auf Türkisch Ağrı nennt?“, fragt Avi seine Tochter. Dann übersetzt er: „Das bedeutet Schmerz.“

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