Evakuierung aus der Ostukraine: Freiwillig im Donbass gefangen

Viele Menschen im ukrainischen Donbass leben lieber ohne Strom in Ruinen, als ihre Heimat zu verlassen. Schuld daran ist auch russische Propaganda.

Eine Frau weint vor einem zerstörten Haus. Sie trägt eine Bluse mit Margeritenblumen

Eine Frau weint vor ihrem zerstörten Wohnhaus nach einem Raketenangriff der russischen Armee Foto: Valentin Sprinchak/Itar-Tass/imago

„Wer braucht uns?“ „Wo werde ich wohnen?“ „Ich habe kein Geld, um wegzufahren.“ Das sind die häufigsten Antworten von Menschen im Donbass auf die Frage, warum sie sich bisher noch nicht an sicherere Orte haben evakuieren lassen. Jeden Tag und jede Nacht werden ihre Städte von der russischen Armee bombardiert.

Schon seit einigen Monaten gibt es dort weder Wasser noch Strom, kein Gas und keine Internetverbindung. Die Menschen leben in Kellern und kochen auf offenen Feuern. Wasser holen sie aus Brunnen, manchmal auch aus Pfützen. Unter ihnen gibt es viele alte Menschen und genauso viele Kinder. Sie spielen russisches Roulette mit dem eigenen Leben: entweder sterben sie durch Granatbeschuss oder an Hunger und Krankheit. Trotzdem gehen sie nicht weg. Und jedes Mal frage ich mich, warum. Und kann es nicht begreifen, selbst wenn ich ihre Erklärungen höre.

Die, die bleiben, haben Angst. Aber paradoxerweise fürchten sie sich weniger vor den Raketen, die über ihren Köpfen hinweg fliegen, als vor dem Unbekannten, das für sie mit der Evakuierung verbunden ist. Es scheint, dass all diese Ängste stärker sind als der Selbsterhaltungstrieb, stärker als der Wunsch, die eigenen Kinder zu schützen. „In unserem Haus schützen uns die heimischen Wände“, antworten sie oft. Oder: „Besser im Keller meines eigenen Hauses als in einer Turnhalle unter fremden Menschen.“

Es scheint, als ob das Vermeiden der alternativlosen „schrecklichen Bedingungen in den Turnhallen“ eines der am meisten verbreiteten Gerüchte unter der lokalen Bevölkerung ist. Dieses Narrativ liest man vor allem in den anonymen lokalen Onlinechats. So wie die Informationen darüber, dass auch in den EU-Ländern niemand auf die ukrainischen Flüchtlinge warte und sie von dort sogar zurück in die Ukraine geschickt würden.

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Experten für Desinformation weisen darauf hin, dass dies eine der vielen Informationstechnologien der russischen Propaganda ist. Sie zielt nicht nur darauf ab, die Stimmung der Menschen im Donbass zu manipulieren, sondern auch darauf, ihre Evakuierung gezielt zu sabotieren. Gleichzeitig ändert das aber nichts am Problem, dass die Ukraine nicht über genügend eigene Kräfte verfügt, um alle Binnenflüchtlinge umzusiedeln.

Jetzt gelten alle Anstrengungen der Unterstützung der Armee. Aber die Zeit schreitet schnell voran, der Herbst rückt näher und mit ihm kommt die winterliche Kälte. Selbst wenn die Kampfhandlungen bald zu Ende wären, gibt es doch Hunderttausende Menschen, die ihre Wohnungen verloren haben und nirgendwohin zurückkehren können. Wo und unter welchen Bedingungen diese Menschen in einigen Monaten leben werden – darüber muss man bereits jetzt nachdenken.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

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Anastasia Magazova ist 1989 auf der Krim (Ukraine) geboren. Studium der ukrainischen Philologie sowie Journalismus in Simferopol (Ukraine). Seit 2013 Autorin der taz und seit 2015 Korrespondentin für die Deutsche Welle (DW). Absolventin des Ostkurses 2014 und des Ostkurses plus 2018 des ifp in München. Als Marion-Gräfin-Dönhoff-Stipendiatin 2016 Praktikum beim Flensburger Tageblatt. Stipendiatin des Europäischen Journalisten-Fellowships der FU Berlin (2019-2020) in Berlin. Als Journalistin interessiert sie sich besonders für die Politik in Osteuropa sowie die deutsch-ukrainischen Beziehungen.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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