Debatte um AKW-Laufzeitverängerung: Ein vorübergehendes Übel

Die politischen Gegner blicken mit Häme auf die Grünen. Aber die Zugeständnisse in der AKW-Frage zeigen eine nötige Annäherung an unschöne Realitäten.

Eingeschneiter Aufkleber Atomkraft, nein....

Der Winter kommt: eingeschneiter Aufkleber 2009 Foto: Ulrich Niehoff/vario images

Die Woche verging unter allgemeinem Starren auf die Grünen. Logisch: Die sitzen scheinbar in der Streckbetrieb-Falle, aus der sie unmöglich heil herauskommen können. Werden sie den Atomausstieg wirklich noch einmal verschieben? Spannend ist diese Frage unter anderem für Menschen, die sich traditionell provoziert fühlen von allem, was grün ist, und die danach gieren, „Siehste!“ zu rufen. Nach dem Motto: Haben wir doch immer gesagt, es waren zu viele Ideale und außerdem die falschen.

Politisch äußert sich das vor allem bei FDP und Union, die sofort mehr rausschlagen wollen als die kurzzeitig verlängerte Nutzung vorhandener Brennstäbe. Da wird mit fiktiven neuen Ausstiegsjahren gehandelt oder gleich mit ganz vagem Ziel: „Bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt ist“, nannte es Friedrich Merz. Ein klassischer Fall von „Nachtigall, ick hör dir trapsen“.

Die Streckbetrieb-Frage treibt aber vor allem die Grünen selbst um. Natürlich, man könnte sagen: Am Atomausstieg hat bei den Grünen noch nie jemand gerüttelt. Sich wie Robert Habeck bereit zu erklären zu noch einem Stresstest, der vielleicht ein „Sonderszenario“ ergibt und zum sogenannten Streckbetrieb führt, ist für viele eine Umdrehung zu viel.

„Wir hatten schon Waffenlieferungen, vielen Dank. Und seid wenigstens so ehrlich, es Laufzeitverlängerung zu nennen“ – das könnte man sagen, und viele Grüne sind entsprechend skeptisch bis wütend über Berliner Atomkraft-Annäherungsäußerungen. Aber ist deshalb jetzt wirklich die ureigene Identität in Gefahr? Zerfällt alles, worauf die Grünen ihr Selbstverständnis als Anti-Atomkraft-Partei gründen, wenn die noch aktiven deutschen Atomkraftwerke etwas länger laufen als bis zum 31. Dezember?

Aber nein. Sowohl für diejenigen, die schadenfroh auf die heikle Situation blicken, als auch für diejenigen, die unter ihr leiden, ist offenbar dieses schwer zu erkennen: Die Grünen stecken nicht hilflos in der Falle. Habecks Zugeständnisse sind kein alles veränderndes Einknicken, sondern eine weitere, durchaus harte Begegnung zwischen Idealen und den Anforderungen der Realität. Zur Erinnerung: Ohne ihre Prinzipien wären die Grünen nicht dort, wo sie heute sind. Sie haben Deutschland längst, Entschuldigung, nachhaltig geprägt.

Für die Grünen könnte das bislang Undenkbare denkbar werden müssen

Aber sie hätten das nicht ohne die Realos geschafft, die die Ziele manchmal kürzer stecken, je nachdem, mit welchen neuen Unwägbarkeiten die Wirklichkeit sie überfällt. Das wissen alle. Trotzdem ist mal wieder der Zeitpunkt gekommen, daran zu erinnern. Diesmal kommt die Wirklichkeit also mit einem energieversorgerischen Schreckensszenario um die Ecke.

Dafür gibt es so viele miteinander verwobene Gründe, dass einem beim Aufdröseln schwindelig werden könnte: zu viel Abhängigkeit vom russischen Gas, zu wenig Ausbau Erneuerbarer Energien, zu viel Klimakrise, zu viel Energiebedarf der Überflussgesellschaft, zu viel ignorante Unbekümmertheit. Und ein Krieg, der zeigt, wie wackelig das ganze Konstrukt war. So. Hier sind wir jetzt. Zu spät, um uns besser vorbereitet zu haben.

Dass die Klimakrise in Frankreich zeigt, wie schlecht sich Atomkraft für die Zukunft eignet, ist da nur eine zusätzliche Ironie des Schicksals. Wegen Hitze und Trockenheit ist dort Kühlwasser gefährlich knapp, deutscher Atomstrom soll aushelfen – haha. Auch das nächste Problem war wohl vorher noch nicht eingepreist: Weil die Leute Heizlüfter kaufen, als würden sie von Putin gejagt, könnte der deutsche Stromverbrauch über die Maßen steigen.

Krise ist nicht schön

Und so könnte also das für die Grünen bislang Undenkbare denkbar werden müssen. Wenn, ja, wenn der zweite Stresstest dies zeigt. Das wäre nicht schön. Wenig ist schön gerade, es ist Krise. Aber auch, wer in der Partei mit dem Streckbetrieb liebäugelt, will nicht zurück zu einer regulären AKW-Nutzung, will keine neuen Brennstäbe und kein erneutes Hochfahren von bereits abgeschalteten Kraftwerken.

Um aus dem Schlamassel herauszukommen, müssen alle, nicht nur die Grünen, sich merken, wie wir hier gelandet sind, die entsprechenden Schlüsse ziehen – und akzeptieren, dass dieser unangenehme Streckbetrieb zu einem notwendigen Übel werden könnte. Es wäre ein vorübergehendes.

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Seit 2022 bei der taz - erst Themenchefin, neuerdings Korrespondentin, Büro Schweden. Frühere Redaktionen: Neue Osnabrücker Zeitung, Funke Zentralredaktion und watson. Früherer Job im Norden: Trolle verkaufen am Fjord, anno domini 1993. Skandinavistin M.A.

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