Anti-Atom-Radtour: Kein Zurück in die Zukunft

Auf einer Tour entlang der letzten Atomkraftwerke feiern Um­welt­schüt­ze­r den Ausstieg. Von Brokdorf bis Wyhl besuchen sie Schauplätze alter Kämpfe.

Protestierende Radfahrer vor dem Meiler in Brokdorf

Auf der Anti-Atom-Radtour auf dem Weg nach Brokdorf Foto: Jannis Große

Udo Buchholz fühlt sich durch die aktuellen Debatten um verlängerte AKW-Laufzeiten an ein schottisches Seeungeheuer erinnert. „Früher wurde in den Sommermonaten immer über Nessie oder mysteriöse Kornkreise spekuliert“, sagt der Sprecher des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU).

In diesem Jahr werde stattdessen versucht, „längere AKW-Laufzeiten aus der Mottenkiste der Nuklear-Geschichte zu holen.“ Es handele sich um eine unsachliche Diskussion. Sie blende aus, „dass jeder weitere Tag AKW-Laufzeit das Risiko eines Atomunfalls und den Atommüllberg vergrößert“.

Die Diskussion ist aber da, und sie fällt zeitlich zusammen mit der – von der Dauer her – längsten Anti-Atom-Demonstration aller Zeiten. Mit zwei jeweils mehrwöchigen Radtouren, die durch Deutschland und mehrere Nachbarländer führen, wollen Anti-AKW-Bewegte in diesem Sommer die bevorstehende Abschaltung der letzten Atomkraftwerke in Deutschland feiern. „Dem Ausstieg entgegen“, lautet das Motto der beiden von der Anti-Atom-Organisation „.ausgestrahlt“ organisierten Aktion.

Am 9. Juli waren Dutzende Radlerinnen und Radler am belgischen AKW Tihange zur sogenannten Nordtour aufgebrochen. Im Block 2 dieses Kraftwerks müssen wegen Tausender feiner Risse im Reaktordruckbehälter mehrere Millionen Liter Notkühlwasser permanent auf 40 Grad erwärmt werden. Anderenfalls könnte bei einem Störfall der Temperaturschock so groß werden, dass der Reaktor birst.

Überall protestieren Menschen auf dem Rad

Über Aachen – in der „heimlichen Anti-Atom-Hauptstadt“ kickt der örtliche Fußballklub Alemannia zugunsten des Widerstands, initiierte der Präsident der Städteregion Anti-AKW-Klagen von mehr als 100 Kommunen, demonstrierten schon mehrere zehntausend Menschen gegen Atomenergie – und das Forschungszentrum Jülich mit seinem Kugelhaufenreaktor radelten die De­mons­tran­t:in­nen nach Keyenberg. Das Dorf soll dem Braunkohletagebau Garzweiler weichen.

Als weitere Stationen folgten Krefeld, wo die Stempelkamp Behältertechnik GmbH Transport- und Lagerbehälter für radioaktive Stoffe fertigt, das Schnelle-Brüter-Grab Kalkar und die Atomkraftstandorte Ahaus, Gronau und Lingen. Die Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau und die Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen sind bekanntlich vom Ausstieg ausgenommen und haben unbefristete Betriebsgenehmigungen.

In Esenshamm an der Unter­weser und in Stade ließen sich die Rad­le­r:in­nen über die Probleme beim Abriss von Atomkraftwerken informieren. Am Mittwoch vergangener Woche erreichte der Konvoi Bremen. Die Stadt zählte über Jahre zu den Hochburgen des Anti-AKW-Widerstands, in nahezu jedem Ortsteil war eine Bürgerinitiative aktiv.

Das Timing hätte nicht besser sein können

Über das symbolträchtige AKW Brokdorf und über Hamburg, wo am vergangenen Sonntag auf dem Altonaer Balkon oberhalb der Elbe eine Protestkundgebung gegen die Versuche einer Wiederbelebung nuklearer Kraftwerke stattfand, erreichten der Konvoi am Donnerstag das Wendland. Auf der Castor-Transportstrecke führt die Route am heutigen Samstag nach Gorleben. Das Finale der Nordtour mit Kaffee und Kuchen und Strategiediskussion über künftige Proteste ist für heute Nachmittag auf dem Grundstück der Widerstandskneipe Gasthaus Wiese in Gedelitz geplant.

„Dem Ausstieg entgegen“ geht es nach der Nordtour bei der “ausgestrahlt“-Demonstration dann vom 13. August 2022 mit dem Rad in 20 Tagesetappen über etwa 1.120 Kilometer durch Süddeutschland. Start ist Kahl/Main, am 3. September trifft man sich beim Abschaltfest in Freiburg.

„Ein besseres Timing für diese Atomausstiegstour konnte es nicht geben“, befindet Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mit Blick auf die Debatte um Laufzeitverlängerungen der letzten drei Atomkraftwerke. „Die Tour ist eine Gelegenheit, die guten Argumente für den Atomausstieg noch einmal zu formulieren und das absehbare Ende dieser Epoche jahrzehntelanger Auseinandersetzungen einzufordern. Dabei vergessen wir nicht, dass der Atommüll bleibt – eine unglaubliche Bürde des Atomzeitalters.“

Das deutsche Atomgesetz schreibt fest, dass die drei noch betriebenen Atomkraftwerke Emsland in Niedersachsen, Isar-2 in Bayern und Neckarwestheim-2 in Baden-Württemberg spätestens zum Jahresende vom Netz gehen müssen. Eigentlich.

Forderung zur Verlängerung werden laut

Doch seit ein paar Wochen mehren sich mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine und drohende Engpässe bei der Gasversorgung Forderungen, die Laufzeiten der drei Meiler zu verlängern. Zu den maßgeblichen Befürworter:in­nen einer solchen Maßnahme zählen neben vielen anderen der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, CSU-Chef Markus Söder, die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm und Leitartikler von Welt und FAZ.

„Für die kommenden Jahre, in denen wir noch nicht ausreichend erneuerbare Energien zur Verfügung haben, kann die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke etwas Luft verschaffen“, sagt etwa die Ökonomin Grimm. Aus Sicht von Merz macht es „keinen Sinn, Kraftwerke abzuschalten, die Strom erzeugen und dafür Gaskraftwerke laufen zu lassen, die auch Strom erzeugen“.

Das Thema droht auch Zwist in die Ampelkoalition zu tragen. Während sich FDP-Chef Christian Lindner inzwischen mehr oder weniger deutlich für längere AKW-Laufzeiten ausspricht, ließ Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen jetzt mitteilen, er wolle noch einmal nachrechnen, ob ein Weiterbetrieb der Atomkraftwerke eventuell doch Sinn machen könnte. Auch andere Grünen-Politiker:innen ließen jetzt wissen, über einen „Streckbetrieb“ der Meiler über den Winter noch einmal nachdenken zu wollen.

Und sind die Klimakrise, die hohen Energiepreise und die Abhängigkeit von russischem Gas nicht wirklich gute Gründe für längere Laufzeiten? „Die Fakten sprechen dagegen“, sagt Wolfram König, Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE).

AKWs sind gefährlich und auch keine Lösung

Die drei verbliebenen AKWs steuerten mit rund 6 Prozent nur wenig zur gegenwärtigen Stromversorgung bei – und kämen als Erdgasersatz auch gar nicht infrage. Gas werde vor allem in der Industrie und zum Wärmen von Haushalten eingesetzt, Atomenergie dagegen für die Stromerzeugung. Für König leisten sie „keinen wesentlichen Beitrag zur Lösung für die Energiebedarfe im nächsten Winter.“

Zudem können Atommeiler anders als Gaskraftwerke nicht flexibel hoch- und runtergefahren werden und auch keine Fernwärme produzieren. „Kommt der Gasimport aus Russland zum Erliegen, ist das eine Gaskrise – keine Stromkrise“, argumentiert Armin Simon von „.ausgestrahlt“ und erfährt damit bei den Teil­neh­me­r:in­nen der Anti-Atomkraft-Radtour volle Zustimmung.

Einer Recherche von Greenpeace, BUND und anderen Umweltorganisationen zufolge sind Deutschland und Europa im Übrigen auch bei der nu­klea­ren Brennstoffversorgung von Russland abhängig: In 2020 habe die EU 20,2 Prozent ihres Urans aus Russland bezogen, weitere 19,1 Prozent von Russlands Verbündetem Kasachstan. In der Europäischen Union ist kein Uranbergwerk mehr aktiv, seit die rumänische Crucea-Mine stillgelegt wurde.

Umwelthilfe will nun klagen

Die Deutsche Umwelthilfe kündigte jetzt eine Klage an, wenn die AKWs über den 31. Dezember hinaus in Betrieb blieben. „Die Befürworter der Laufzeitverlängerung spielen russisches Roulette mit der Sicherheit der Menschen“, so der Geschäftsführer der Umwelthilfe, Sascha Müller-Kraenner. Die veralteten Anlagen seien ein täglich größer werdendes Sicherheitsrisiko, ihr Weiterbetrieb bedrohe das Grundrecht auf Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit.

Selbst die AKW-Betreiber RWE, EnBW und Eon sehen längere Laufzeiten sehr skeptisch. „Unser Kraftwerk in Emsland ist auf den Auslaufbetrieb zum Ende des Jahres ausgerichtet, zu dem Zeitpunkt wird der Brennstoff aufgebraucht sein“, erklärte etwa RWE. „Ein Weiterbetrieb über den 31. Dezember hinaus wäre mit hohen Hürden technischer als auch genehmigungsrechtlicher Natur verbunden.“

Auch EU-Binnenmarkt­kommissar Thierry Breton schaltete sich in die deutsche Nukleardebatte ein: Es sei wichtig die deutschen AKWs laufen zu lassen, sagte er und verwies auf sein Heimatland Frankreich, wo noch 56 Atomkraftwerke am Netz sind. Tatsächlich stehen zurzeit 30 dieser Reaktoren still – die meisten wegen Sicherheitsuntersuchungen und Wartungen, andere wegen Revisionsarbeiten. Andere mussten die Leistung wegen Hitze und niedrige Wasserständen drosseln.

Aschaffenburg, Hanau und Frankfurt

Seit Jahresbeginn bezieht Frankreich nahezu täglich Strom aus Deutschland in einer Größenordnung von bis 100 Gigawattstunden: die Leistung von drei konventionellen oder nuklearen Großkraftwerken. Rechnerisch laufen die letzten deutschen Atomkraftwerke also nur noch für den Stromexport ins gelobte Atomland Frankreich.

Startpunkt der zweiten Fahrt, der „Südtour“, ist am 13. August Kahl im bayerischen Kreis Aschaffenburg. Dort ging Anfang der 1960er Jahre das erste kommerzielle Atomkraftwerk der BRD ans Netz. Weiter geht’s nach Hanau, zeitweise Europas größte Ansammlung von Nuklearfirmen, und zur Frankfurter „Startbahn West“, wo sich in den 1980ern Tausende Demonstranten heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. An der Route liegen auch die AKW-Standorte Biblis, Obrig­heim, Neckarwestheim, Gundremmingen und das Kernforschungszentrum Karlsruhe.

Nach einem Abstecher in die Schweiz und zum französischen AKW Fessenheim erreicht die Tour am 2. September das Dorf Wyhl. Das dort geplante AKW wurde durch Großkundgebungen, Bauplatzbesetzungen und ein bis dahin ungekanntes Bündnis aus örtlichen Winzern, Hausfrauen, Honoratioren und Studierenden verhindert. Wyhl gilt als „Wiege der Anti-AKW-Bewegung“. Ein familienfreundliches Anti-Atom-Fest in der „Solarhauptstadt“ Freiburg beschließt am 3. September die Tour.

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