Mobilisierung durch das rechte Lager: Gegen Armut, gegen rechts

Wegen explodierender Kosten droht eine neue Armutswelle. Rechte machen sich bereit, die Not für sich zu nutzen. Wo bleibt die Mobilisierung von links?

Mehrere Menschen protestieren und halten beschriftete Plakate in die Luft.

Bereits während der Corona-Pandemie wurden Sozialproteste vom rechten Lager genutzt Foto: Philipp von Ditfurth

Es ist Ende September 2022. Hohe Nachforderungen für Heizkosten treffen viele Menschen hart. Infolge der Inflation haben sich die Einkommenschwächsten bereits in den Monaten zuvor einschränken müssen. Nun kommt die Angst die Wohnung zu verlieren, in Armut zu enden hinzu. Andere, die die explodierten Lebenshaltungskosten bislang noch abfangen konnten, sorgen sich jetzt vor dem sozialen Abstieg. Viele suchen frustriert nach individuellen Lösungen, andere aber sind wütend und wollen ihren Frust herauslassen: Wieso tut die Politik nichts?

Diese Vorhersage, die als sicher gelten kann, wird sich zur Dystopie steigern, wenn die Linke der sozialen Misere weiter tatenlos zuschaut. Was dann droht, ist eine durchaus reale Gefahr: Neue Montagsdemos breiten sich aus, organisiert von den Ak­teu­r:in­nen und mit den Strukturen der Corona-Proteste und der AfD. Als gemeinsames Feindbild und alleiniger Schuldiger dient die Bundesregierung, die die „normalen Menschen“ im Stich lasse. Soziale Forderungen mischen sich mit Kritik an angeblich beschnittener Meinungsfreiheit, unsinniger Coronapolitik und einem falschen Umgang mit Russland, der für die aktuelle Misere verantwortlich sei.

Diesmal ist auch die AfD mit allem, was sie hat dabei. Die euphorische Hoffnung, das verhasste demokratische System zu stürzen, eint die Rechte wie nie. Eine übergreifende Kampagne beutet die Abstiegsangst populistisch aus und verzichtet auf allzu offensichtlichen Rassismus. Angesprochen werden auch Menschen, die bislang nicht ins Netz von Alternativ­medien und Verschwörungserzählungen geraten waren. Wo anders sollen sie mit ihren Forderungen nach sinkenden Preisen und staatlicher Unterstützung auch hin? Andere Proteste gibt es – zumindest in der Fläche – nicht.

Drohende Sozialproteste von rechts

Diese Szenerie der Sozialproteste von rechts ist so dystopisch wie greifbar. Das verschwörungsaffine und rechte Lager hat sich während der Coronapandemie bestens vernetzt und giert nach neuen Aufregerthemen. Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer prophezeit gar, die Querdenken-Proteste könnten „ein Kindergeburtstag im Vergleich zum kommenden Herbst und Winter“ gewesen sein.

Der heimliche AfD-Chef Björn Höcke heizt die Sorgen der „deutschen Bürger“ an, die „für ein anderes Land im Winter frieren sollen“. Ein AfD-Bundestagsabgeordneter aus Sachsen-Anhalt berichtet triumphierend: „Wenn spätestens im Herbst der Unmut der Bevölkerung wieder auf die Straßen tritt, sind wir nun gut vorbereitet.“

Und was macht die Linke? Die gleichnamige Partei ist in ihrer tiefsten Krise, kaum handlungs- oder mobilisierungsfähig. Die Gewerkschaften haben an Kampfkraft und gesellschaftlichem Gestaltungswillen nicht mehr viel zu bieten – und sind durch Tarifauseinandersetzungen gebunden, mit denen zumindest ein Teil des Kaufkraftverlusts ausgeglichen werden soll.

Und die außerparlamentarische Linke ist segmentiert, steckt in Teilbereichskämpfen und ist kaum mehr imstande, Menschen außerhalb der eigenen Szene anzusprechen. Die letzte Sozialbewegung, die ihren Namen verdient, richtete sich vor fast 20 Jahren gegen die Einführung von Hartz IV. Die Bearbeitung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit ist der Linken abhanden gekommen, ein Nischenthema neben vielen.

Deutungshoheit über Proteste zurückgewinnen

Doch schafft es die gesellschaftliche Linke nicht, in der größten sozialen Krise seit den 1990er Jahren aktiv zu werden, und überlässt stattdessen den Rechten das Feld, wäre das der Worst Case: für sie selbst, weil sie sich dann endgültig überflüssig macht, genauso wie für das Thema. Denn Sozialproteste von rechts verdienen schon die Bezeichnung nicht: Sie stehen für die Suche nach Schuldigen statt einer Analyse kapitalistischer Strukturen, für Neiddebatten zwischen Abstiegsgefährdeten statt für Solidarität über alle Betroffenengruppen hinweg.

Zumindest leise Hoffnungsschimmer aber gibt es: Das vor allem in Hamburg präsente linke Bündnis „Wer hat, der gibt“ demonstrierte zuletzt unter großem medialen Interesse auf Sylt für Umverteilung. In Bremen gelingt es gar über Symbolpolitik hinaus ein Protestangebot zu kreieren, das sich auf die Lebenssituation der Armen fokussiert. Zusammengetan haben sich verschiedene Gruppen zum Bündnis gegen Preiserhöhungen, mit populärer Ansprache und einem vorausschauenden Blick: „Starke solidarische Proteste gegen die Preiserhöhungen können deswegen auch vor rechten Vereinnahmungsversuchen schützen und ihnen den Boden entziehen, bevor sie überhaupt da sind.“ Der Ansatz ist richtig, denn läuft es andersherum, stehen Linke nur noch vor der Frage, wie sie auf die von rechts gesteuerten Proteste der Armen reagieren: Resignieren? Gegen sie demonstrieren? Eine Lose-lose-Situation.

Womöglich aber kommt der Anstoß für Proteste auch aus unbekannter Ecke; von ganz neuen Akteuren, die in der Links-rechts-Frage nicht eindeutig positioniert sind. Während sich Rechte nicht lange mit Analysen aufhalten werden, stehen Linke vor der strategischen Frage: Wären sie bereit, sich die Hände schmutzig zu machen, um die Deutungshoheit und Abgrenzung nach rechts zu erkämpfen, so wie es bei den Gelbwesten in Frankreich gelang?

Für Linke ist es an der Zeit, die Herausforderungen anzunehmen, auch wenn die Ausgangsbedingungen nicht gut sind. Doch jeder Flyer, jede Kundgebung, jedes Bündnis, das die sozialen Sorgen der Menschen in den Mittelpunkt stellt, ist wichtig: für den Kampf gegen die neue Armut – und gegen die Rechten.

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