Notizen aus dem Krieg: Wir gehorchen nicht schweigend

Cherson im Süden der Ukraine wurde am Anfang des Krieges von Russen besetzt. Hier schreibt eine Frau über den Alltag, die Gefahren, den Widerstand.

In Cherson: Ein russischer Soldat im Vordergrund, im Hintergrund ukrainische Zivilisten

Russischer Soldat vor Zivilisten im südukrainischen, von Russland besetzten Cherson Foto: Sergei Bobylev/Tass/imago

Ruslana N. ist 45 Jahre alt; sie hat zwei Kinder und lebt in Cherson, der von Russland besetzen Stadt in der Südukraine. Mehr persönliche Details kann sie von sich nicht preisgeben. Sie hat Angst.

Die Region um Cherson wurde rasant schnell von Russland besetzt. Und ebenso schnell verschwand die Möglichkeit zu fliehen. Zuerst wurden die Ausfahrten nach Mykolaijiv über Posad-Pokrovske, dann durch Stanislav und Oleksandrivka abgeschnitten. Dann wurden die Straßen in Richtung Kryvyi Rih abgeschnitten, von denen die letzte über die berüchtigte Davidsbrücke führte, wo die Kolonne von Zivilisten beschossen wurde. Meine Kollegin war in dieser Kolonne, sie und ihre kleine Tochter hatten das Glück, am Leben zu bleiben, aber sie schweigt darüber, was dort passiert ist. Man kann jetzt nur über die Krim und das Territorium der Russischen Föderation in die baltischen Länder ausreisen. Das sind mindestens 600 Dollar und vier Tage im Bus. Für eine durchschnittliche Familie ist das unrealistisch.

Dörfer

Es sind jetzt viele Russen in der Region, und sie fühlen sich wie die Hausherren. In den Dörfern geschehen schreckliche Dinge. Nach Osokorivka, (es ist derzeit befreit, wenn ich mich nicht irre), kamen zusammen mit dem Militär auch Ärzte, und sie diagnostizierten Massenvergewaltigungen. Wie eines der Opfer sagte, spielten Alter und Aussehen für die Eindringlinge keine Rolle, sie vergewaltigten auch sehr alte Frauen.

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Das schöne, an der Mündung gelegene Dorf Oleksandrivka existiert nicht mehr, es wurde dem Erdboden gleichgemacht. Der Leiter der Gemeinde Stanislavska und die Einwohner und Einwohnerinnen von Stanislav sind immer noch mit der Evakuierung und Bestattung der Leichen beschäftigt, alles auf eigene Gefahr, da der Beschuss nicht nachlässt. Es gibt Straßen, an denen kein einziges ganzes Haus mehr steht.

Es gibt viele solcher Dörfer in der Region, und jedes hat seine eigene Geschichte der Schrecken des Krieges.

Cherson

Meine wunderbare Stadt im Süden, meine Heimat. Die Tragödie der Besetzung Chersons begann sofort und blutig mit der Schlacht um die Antoniv-Brücke. Die Vororte Chersons, Antonivka und Kindiyka, wurden mehrere Tage lang beschossen, und dann war es einige Tage lang nicht möglich, sich auf die Evakuierung der Bewohner zu einigen, die den Beschuss überlebt hatten. Die Menschen flohen auf jede erdenkliche Weise. Darunter mein Bekannter, er und seine Familie mussten unter Beschuss fliehen, weil von ihrem Haus nur noch eine Mauer übrig war. Seitdem wird er ohnmächtig, wenn er laute, schrille Geräusche hört.

Und dann drangen Panzer in die Stadt ein. Und die Tragödie von Buskovyj-Park geschah: Dort gingen die Stadtbewohner mit Molotowcocktails auf die Panzer los. Sie wurden in Sekundenschnelle mit einem großkalibrigen Maschinengewehr zerfetzt. Lange ließen die Russen niemanden die Leichen abholen. Der örtliche Priester, Serhii Chudynovych, begrub selber die Helden, mit Hilfe anderer Männer, in einem Massengrab direkt dort im Park.

In den ersten Tagen der Besetzung von Cherson wurden Häuser in der Tarle- und Perekopska-Straße mit schweren Waffen beschossen. Es sollte die Rache für den Widerstand in Buskovyj-Park sein.

Kommunikation

Ende April wurde die Kommunikation in der Region unterbrochen. Ich werde nie den klebrigen Horror vergessen, meine Verwandten nicht anrufen zu können, um herauszufinden, ob sie noch leben. Denn das ist jetzt unsere Realität. Wir fuhren in die Außenbezirke der Stadt, weil es dort noch Empfang aus dem Gebiet Mykolajiv gab. Dann wurde die Verbindung wiederhergestellt, aber nur, um sie kurz danach wieder abzuschalten. Seither haben wir eigentlich nirgendwo Verbindung, selbst die Festnetztelefonverbindungen innerhalb der Stadt funktionieren nicht.

Internet ist nur für diejenigen verfügbar, die schon vor dem Krieg bei kleinen lokalen Anbietern waren. Die Leute, aber auch Einrichtungen, die noch Netzzugang haben, löschen die Passwörter ihrer WLAN-Verbindungen, damit Nachbarn es auch nutzen können.

Auf der zentralen Suvorov-Straße ist an einer Stelle noch schwacher Empfang vom Netzwerkbetreiber Lifecell, dort sitzen sehr viele Leute auf den Bänken, auf den Bordsteinen.

Banken und Geld

Die Raiffeisen-Bank Aval ging fast sofort, ohne den Leuten die Möglichkeit zu geben, Geld zu überweisen oder abzuheben. Die Sparkasse hielt bis zuletzt durch, bis bewaffnete Soldaten kamen und sagten: „Jetzt gehört sie uns.“ Wir werden der Privatbank für immer dankbar sein, dass sie immer noch alle Kraft aufbietet, um ihre Kunden nicht im Stich zu lassen. In den Filialen kann man Bargeld abheben. Die Warteschlangen sind unglaublich lang, aber es ist möglich. Als uns das Mobilnetz genommen wurde, fand der Support der Bank eine Möglichkeit, sich ohne SMS zu authentifizieren.

Es gibt jetzt einen neuen Beruf in Cherson: den Bargeldabheber. Schafft man es nicht, sich in die Warteschlange einzureihen, überweist man ihm einen Betrag. Er holt das Geld ab und übergibt es einem, behält dafür aber 2 bis 10 Prozent des Betrags.

Medizinische Versorgung

Die russische Welt („Russki mir“) beraubte uns der Apotheken und Medikamente. Medikamente werden an Straßenrändern und auf Basaren aus den Kofferräumen der Autos unter der sengenden Sonne verkauft. Oder über Telegram-Gruppen. Um zu betonen, dass die Arzneien von hoher Qualität sind, fügt man in Telegram-Gruppen „ukrainisch“ oder „nicht Krim“ hinzu.

Wenn, Gott bewahre, etwas Ernstes passiert, werden alle Verwandten und Freunde des Patienten gleichzeitig in allen Ecken der Stadt nach Medikamenten suchen. Und es ist nicht abzusehen, dass man sie findet. Es gab eine Zeit, in der eine Flasche Wasserstoffperoxid – das braucht man zur Desinfektion – bis zu hundert Griwna kostete. Das ist zehnmal mehr als früher.

Schüsse überall

In den ersten Maitagen konnte man auf dem Bürgersteig am Park vorbeigehen und plötzlich Scharfschützen im Gras liegen sehen. Und gleichzeitig fuhr ein gepanzerter Personentransporter mit Maschinengewehren die Straße entlang. Es lohnt sich nicht, irgendwo abzubiegen, das Tempo zu beschleunigen, es kann missverstanden werden, und Sie werden einfach erschossen.

Das Haus zu verlassen ist gleichbedeutend mit dem Gang in den Weltraum

Irgendwann Ende April haben die Russen das Zentrum der Stadt mit einer Rakete getroffen, um die Streitkräfte der Ukraine dafür verantwortlich zu machen. Kein Fenster blieb heil. Ein Eisenstück landete in der Nähe meines Hauses; zum Glück habe ich dort nicht übernachtet. Am nächsten Morgen bin ich so schnell zu meinem Haus gelaufen, dass ich dachte, mein Herz explodiert. Zum Glück war die Druckwelle in die andere Richtung gegangen, sogar die Fenster waren noch ganz.

Kein Licht

Heute ist der 105. Tag, an dem ich das Licht nicht angemacht habe. Russen fahren im Dunkeln mit schwerem Gerät durch die Stadt und leuchten mit einem starken Suchscheinwerfer in die Fenster, wenn diese beleuchtet sind.

Das Haus zu verlassen ist gleichbedeutend mit dem Gang in den Weltraum.

Menschen verschwinden

Man muss auch alle Kontakte und Mails und sonstige digitale Spuren aus dem Telefon entfernen, da das Telefon jederzeit überprüft werden kann und Sie aufgrund dessen, was die Russen auf dem Telefon bei der Überprüfung finden, festgehalten werden können. Menschen verschwinden. Einige werden später freigelassen, andere befinden sich seit mehr als einem Monat in Gefangenschaft und ihr Schicksal ist unbekannt.

Selbst sehr junge Menschen werden gefangen genommen und verschwinden. Ein 18-jähriger Junge wurde nach einer der Kundgebungen verhaftet. Sie entließen ihn genau einen Monat später aus der Gefangenschaft.

Widerstand

Trotz all dieses Schreckens gibt es Widerstand! Wir gehorchen nicht schweigend. Zuerst gab es Massenkundgebungen, und zwar sehr oft. Menschen mit Fahnen marschierten auf Schützenpanzer und Bewaffnete zu. Dann wurde eine Kundgebung beschossen, mehrere Personen schwer verletzt. Jetzt geschieht der Widerstand im Verborgenen, aber er ist da. Flugblätter werden an Wände geklebt, Striche in den Farben unserer Flagge über Mauern gezogen, Bänder in unseren Farben in Bäume gehängt.

Neulich fuhr ein bekannter Freiwilliger aus Cherson, Onkel Grisha, mit dem ukrainischen Song „Schlag zu“ auf voller Lautstärke durch den Markt in Dnipro. Straßensänger singen ukrainische Lieder, aus Geschäften dröhnt ukrainische Musik. „Oj u luzi chervona kalyna“ – „Oh, da ist ein roter Schneeball auf der Wiese“ – wird an Sommerabenden in den Höfen von Hochhäusern gesungen, so dass man nicht weiß, woher der Gesang kommt.

Cherson beweist jeden Tag, dass wir Ukrainer sind, wie es nur möglich ist unter Bedingungen des totalen Terrors.

Unser einziger Traum, der einzige von uns allen, ist die Chersons Befreiung und der Sieg.

Aus dem Ukrainischen Ljuba Danylenko

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