Berliner Rettungsdienst in der Krise: „Das ist ein negativer Prozess“

Notrufe nehmen zu. Der Rettungsdienst muss darauf antworten finden, sagt Notfall­mediziner und Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen.

Rettungswagen stehen in Kladow unweit eines Pflegeheimes

Immer im Einsatz! Hier in Berlin-Kladow Foto: dpa/Paul Zinken

taz: Herr Dahmen, die Berliner Feuerwehr ruft derzeit fast täglich den Ausnahmezustand aus. Sie waren selbst bis Oktober 2020 als Oberarzt in der Ärztlichen Leitung für den Berliner Rettungsdienst zuständig. Was heißt das denn eigentlich, Ausnahmezustand?

Janosch Dahmen: Der Ausnahmezustand wird immer dann ausgerufen, wenn es eine Spitzenbelastung im Rettungsdienst gibt – wenn also zusätzliche Rettungsdienstwagen in den Dienst genommen werden müssen, um die große Anzahl an Menschen in Not versorgen zu können. Die hohe Frequenz, mit der inzwischen in Berlin der Ausnahmezustand ausgerufen wird, zeigt, wie sehr das Rettungswesen analog auch der Notaufnahmen insgesamt belastet ist – eine Entwicklung, die sich übrigens seit vielen Jahren in allen Großstädten als zunehmendes Problem abzeichnet.

Unfallchirurg und Notfallmediziner, war bis Oktober 2020 für die Ärztliche Leitung des Rettungsdiensts bei der Berliner Feuerwehr zuständig. Seitdem Abgeordneter der Grünen-Fraktion im Bundestag und deren gesundheitspolitischer Sprecher.

Der Dauer-Ausnahmezustand macht also den chronischen Personalmangel offensichtlich?

Maßnahmenpaket 5 Punkte listet der Maßnahmenplan von Innensenatorin Iris Spranger (SPD) für den Berliner Rettungsdienst auf. Bis Ende des Jahres sollen Hilfsorganisationen wie der Arbeiter-Samariter-Bund mit insgesamt 5 Rettungswagen plus Personal die Feuerwehr unterstützen. Außerdem sollen Dienstpläne „optimiert“ werden; wer als ausgebildete Ret­tungs­sa­ni­tä­te­r*in derzeit in die Verwaltung abgeordnet ist, wird womöglich zurückbeordert auf die Wagen. Eine Aufklärungskampagne in der Bevölkerung soll zudem die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts (116117) bekannter machen als Alternative zum Notruf 112.

Fragenpaket Eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Vasili Franco an die Innenverwaltung zeigt: Von rund 200 Rettungswagen sind nur rund 146 tatsächlich einsatzfähig. Beim Personal können von 1.048 Ret­tungs­sa­ni­tä­te­r*in­nen nur rund 750 eingesetzt werden – wegen Krankheit oder Verwaltungstätigkeiten. (taz)

Ja, das ist ein Teil des Problems. Wir haben die Tendenz, dass die Notrufe insgesamt seit Jahren zunehmen: weil die Menschen älter werden, weil sie einsamer werden und soziale Netzwerke nicht mehr in dem Maße wie früher zur Unterstützung vorhanden sind. Auch chronische Erkrankungen nehmen deutlich zu. Insgesamt kann man sagen, mehr Menschen werden häufiger krank und haben dabei seltener gute Unterstützung. Hinzukommt die starke Ökonomisierung im Gesundheitswesen, Hausbesuche fallen weg, aufwendigere Pflegefälle werden lieber ins Krankenhaus verlagert und kranke Menschen werden immer früher aus dem Krankenhaus entlassen. Oft ist dann niemand da, der helfen kann, wenn es den Menschen doch schlechter geht. Das betrifft übrigens nicht nur Berlin, sondern das ist ein Befund aus vielen Metropolen Europas. In Berlin kommt hinzu, dass der Anteil an Rettungswagen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern deutlich geringer ausfällt als zum Beispiel in Hamburg oder Köln. Die Konsequenz: Die Kolleginnen und Kollegen hier sind stärker belastet, die Krankheitsquote ist höher. Das ist ein sich verstärkende, negativer Prozess.

Ausbilden dauert. Was kann die Politik bis dahin tun?

Wir müssen kurzfristig mit den zur Verfügung stehenden Personalressourcen haushalten und langfristig viel mehr speziell für den Rettungsdienst ausbilden. Bei der Berliner Feuerwehr sollten meines Erachtens Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Notfallsanitäter:innen-Ausbildung bis dahin nur noch im Rettungsdienst eingesetzt werden, und beispielsweise nicht mehr auf Löschfahrzeugen zur Brandbekämpfung, wie es heute noch oft der Fall ist. Auch müssen wir diejenigen, die über die entsprechende Qualifikation verfügen, aber aktuell nicht im Rettungsdienst eingesetzt werden, konsequent heranziehen. Dass das Gesundheitswesen nicht nur in der Pflege, sondern auch im Rettungsdienst insgesamt stark unter dem Fachkräftemangel leidet, muss man natürlich auch sehen. Berlin zahlt ja bereits eine Zulage für Notfallsanitäterinnen und -sanitäter. Da sollte das Land überlegen, ob sie diese nicht stärker an den tatsächlichen Einsatz im Rettungsdienst gekoppelt und insgesamt deutlich ausgeweitet werden kann.

Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) will als Teil eines 5-Punkte-Plans für den Rettungsdienst auch eine Aufklärungskampagne starten: Ber­li­ne­r*in­nen sollen überlegen, ob es wirklich die 112 sein muss oder ob die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdiensts ausreicht. Ist es aus medizinischer Sicht okay, den Menschen dafür die Verantwortung zu geben?

Nein, das halte ich für den falschen Weg. Ich bin sehr besorgt, dass wir in der Not des Fachkräftemangels den Patienten suggerieren: Ihr seid Schuld, weil ihr zu oft die 112 wählt. Es ist, im Gegenteil, die Aufgabe für die Notfallrettung, für die Menschen da zu sein. Dafür gibt es die Leitstelle die Feuerwehr, die entscheidet, ist das ein Notfall oder nicht und ihn ja bereits heute gegebenenfalls an den ärztlichen Bereitschaftsdienst weiterleiten kann.

Es gibt Stimmen in der Feuerwehr, die sagen: Die Organisation der Leitstelle ist das Problem. Die Wagen würden zu oft zu Bagatellfällen geschickt. Stattdessen wollen die Sa­ni­tä­te­rinnen und Sanitäter auf den Wagen lieber selbst entscheiden, ob das ein Notfall ist oder nicht.

Die Leitstelle verwendet eine international-qualitätsgesicherte, standardisierte Abfrage für die Notfälle, die reinkommen. Und im Vergleich mit anderen europäischen Städten, die dieses Protokoll auch verwenden, sehen wir: Die Einstufung, was alles nicht so dringend ist, unterscheidet sich hier nicht von anderswo. Die Statistik zeigt sogar, dass seit der Einführung des Protokolls mehr Anrufe an den ärztlichen Bereitschaftsdienst abgegeben werden als vorher. Dieses Vorgehen ist zwingende Voraussetzung für Rechts- und Patient:innensicherheit: Die Vorstellung, man könne aus einem Bauchgefühl am Telefon heraus entscheiden, was ein Notfall ist, und was nicht – das ist eine unmedizinische, das würde auch kein Arzt aus der Notaufnahme so machen. Untersuchungen aus Berlin zeigen sogar, dass der Rettungsdienst im Vergleich zu den Notaufnahmen die Schwere einer Erkrankung häufig deutlich unterschätzt. Nicht alles was schlimm ist, hört sich auch schlimm an oder sieht direkt schlimm aus. Vorsicht ist in der Medizin besser als Nachtsicht, dass gilt im Übrigen so auch in der Brandbekämpfung.

Ist es aber nicht so: Als Mitarbeiterin in der Leitstelle gehe ich dann lieber auf Nummer sicher und schicke den Rettungswagen los, auch wenn es nur ein weniger schwerer Fall ist?

Das wird immer so gesagt, ist aber nicht richtig. Berlin gibt z.B. mehr Einsätze ab, als jede andere Großstadt in Deutschland. Pro Tag werden in Berlin rund 100 Einsätze an die Kassenärztliche Vereinigung übergeben und dort entweder an die telemedizinische Beratung oder den ärztlichen Bereitschaftsdienst weiter vermittelt. Diese Zahl ist stetig gestiegen. Wobei man sehen muss: Auch Haus- und Fachärzte und vor allem die Pflegedienste leiden unter dem Fachkräftemangel. Bis sich da jemand kümmern kann, ist der Rettungsdienst im Zweifelsfall in der Sicherstellungsverantwortung wenn es ernst wird, das ist Gefahrenabwehr. Für die Zukunft ist es deshalb wichtig weitere Angebote direkt an die Leitstelle anzubinden: Sozialarbeit, den sozialpsychatrischen Dienst, Notfallpflegedienste. Dafür bräuchte es insbesondere eine Reform der Notfallversorgung des Rettungswesens auf Bundesebene, was auch gerade läuft.

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