Die Jugend und der Ukraine-Krieg: Wokies für Waffen?

Wie reagieren Twentysomethings aus dem linksliberalen Milieu auf die Realität des russischen Angriffskrieges? Aron Boks hat sich für die taz FUTURZWEI umgehört.

»Auf einmal ist Krieg«: Demo gegen Russlands Angriffskrieg im Berliner Regierungsviertel am 4. Mai 2022 Foto: Michael Danner

Von ARON BOKS

Es ist wie 1968«, sagt Elenas Mutter, während im Deutschlandfunk vom Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine gesprochen wird und Elena und ich neben ihr auf ihrer Wohnzimmercouch sitzen. Sie ist in den 80ern aus der Tschechoslowakei in die BRD geflohen und spricht jetzt ziemlich schnell mit Elena auf Tschechisch. »Nein, es ist wie 1938«, sagt sie nach einer Weile wieder auf Deutsch. Ich sitze schweigend daneben.

»Wir sind plötzlich die junge Generation, die sich zum realen Krieg real verhalten muss. Bisher waren wir nur die, die für ihren Frieden nichts tun musste.«

Aron Boks

In den nächsten Wochen verbringt Elena immer mehr Zeit in der Heimat ihrer Mutter. Zwischendurch treffe ich sie wieder in Berlin.

»Die ersten Tage erschienen mir ganz unwirklich«, sagt sie. »Auf einmal ist der Krieg und die Frage des richtigen Bezugs dazu in die Mitte meines Lebens gerückt. Es lässt mich auch nicht mehr los, weil ich mich der Sprache der Ukrainer irgendwie verbunden fühle und die Geschichte meiner Familie so stark mit Russland zusammenhängt.«

Ich selbst bin 25 und komme aus Wernigerode. Meine familiären Wurzeln liegen aber im Sudetenland. Erst seit Kurzem beschäftige ich mich mit dieser Familiengeschichte und habe in den tagebuchähnlichen Notizen meines Urgroßvaters, der Kommunist und Halbtscheche war, einen Eintrag von 1938 gefunden. Damals war er so alt wie ich es jetzt bin.

Plötzlich spricht man über Waffen und Krieg

» Ohne einen Schuss abzugeben, ließen die Tschechen die deutschen Truppen ins Sudetenland einmarschieren. Damit waren alle Zukunftsplän e illusorisch.«

»Man merkt, dass dein Urgroßvater nur Halbtscheche war«, sagt Elena. »Es klingt, als wären die Tschechen damals zu feige für den Widerstand gewesen. Dabei sahen die meisten ihn als Art Selbstmord an. Nach 1938 waren sie auf sich selbst gestellt.«

Frankreich und England hatten damals mit Unterzeichnung des Münchner Abkommens die Tschechen gezwungen, das Sude­ten­land an Deutschland abzutreten, weil sie den Frieden mit Hitler bewahren wollten. Das gilt bis heute in Tschechien als großer Ver­rat. Für Elenas Großvater war das der Moment, der den Weg für den Zweiten Weltkrieg freimachte. Deshalb findet er es absolut not­wendig, die Ukraine mit allen Mitteln von ­außen zu unterstützen.

Vielleicht liegt es bei Elena daran, dass sie eine zweite Nationalität besitzt, weshalb es ihr anscheinend leichter fällt, über Waffen und Krieg zu sprechen, während ich Angst habe, damit von dem bisher ausgemachten Kodex unserer gemeinsamen linksliberalen Bubble abzuweichen. Der sah bisher vor, die Bundeswehr und die deutsche Rüstungsindustrie abzuschaffen, da wir die Überbleibsel des faschistischen Nationalsozialismus und seiner Wehrmacht niemals aus unserer Identität bekommen.

Elena spricht inzwischen mit ihrer Familie und anderen Men­s­chen in Tschechien viel darüber, wie man der russischen Bedro­hung entgegentreten kann. Mir hingegen gingen vor allem die Ur­großvater-Zeilen »Damit waren alle Zukunftspläne illusorisch« nicht aus dem Kopf und ich habe mich sogar erwischt, wie ich Pläne ausheckte, um im Ernstfall in die Schweiz zu emigrieren. Nur für den unangenehmen Fall, dass die Regierung auf die Idee kommen könnte, nicht nur Waffen, sondern auch die Wehrpflicht wieder wichtig zu finden.

Was passiert da in einem bisher antimilitairistischen Milieu?

»Natürlich habe ich auch ganz kurz daran gedacht, wo man hin­könnte«, sagt Elena. »Aber wirklich viel Raum, um darüber nachzudenken, blieb mir nicht. Einfach weil ich ja mit den Menschen in Tschechien sprach und an sie denke. Viele aus den ehemaligen Ostblockstaaten haben Angst vor dem großen Nachbarn Russland. Also nicht nur davor, was der Krieg mit der Welt macht, sondern, dass sie tatsächlich die Nächsten sein könnten, die angegriffen werden.«

Es gibt sicher auch viele junge Deutsche, die meinen Flucht­impuls verurteilen. Denen es leichter fällt über die, in meinem Milieu verpönten No-Go-Wörter wie »Waffenlieferungen« und »Rüstungsindustrie« zu sprechen. Das waren bisher aber auch solche, die es schon immer absolut nachvollziehen konnten, wenn jemand sich dazu entschlossen hat, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten. Ich lebe eher in einer Peergroup, die bis vor Kurzem noch antimilitaristische Webseiten wie www.bevor-du-unterschreibst.de betreute und darin in mehreren Absätzen vor der Bun­deswehr warnte und behauptete, dass ihre Existenz absolut sinn­los sei. Nun reden und tweeten aber Leute aus dieser Bubble auch über Krieg und »schwere Waffen« und scheinen dabei keineswegs verunsichert. Da ich das von mir keineswegs behaupten kann, wird es Zeit, im eigenen Milieu zu forschen, was da gerade passiert.

Zuerst treffe ich mich mit der Journalistin Anastasia Tikhomirova in ihrem Lieblingscafé in Berlin. Sie wurde wie Elena 1999 in Deutschland geboren. Ihre Eltern sind Russen. Während sie sich ent­schuldigt, zu spät zu kommen und die durcheinandergeratenen blond gelockten Haare aus ihrem Gesicht schiebt, schaut sie auf ihre geöffnete Twitter-App und ich erfahre bei der Gelegenheit, welche zwei Gruppen Mensch ihr derzeit am meisten auf die Nerven gehen: deutsche Politikwissenschaftler mit Appeasement-Haltung gegenüber Russland, die »mal in Osteuropa gewesen« sind und deswegen als Russlandexperten interviewt werden, und »Almans«, die sie als Verräterin der Arbeiterklasse beschimpfen, weil sie der Sowjetunion kritisch gegenübersteht und vor allem gegen den russischen Imperialismus von Präsident Putin schreibt.

Foto: Michael Danner

Historische Schuld als Vorwand für Ignoranz gegenüber dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine

»Wo trifft man solche Leute?«, frage ich.

»Unter anderem in der linksradikalen Bubble, in der ich mich bewege«, sagt sie.

Ich erzähle ihr von meinem Gespräch mit Elena, ihrer tschechischen Familie und meinem möglicherweise spezifisch deutschen Unbehagen, militärische Positionen zu beziehen, das sei ja auch mit unserer Geschichte verknüpft und …

»Deutsche reden gerade zu viel von historischer Schuld«, unterbricht mich Anastasia.

»Wie kann man denn zu viel von historischer Schuld sprechen?«, sage ich schnell.

»Versteh mich nicht falsch – normalerweise wird zu wenig darüber geredet. Aber wenn Menschen, die sonst nie davon sprechen, das jetzt plötzlich als Vorwand für ihre Ignoranz gegenüber dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine äußern, weiterhin russisches Gas kaufen und sich gleichzeitig damit schwertun, der Ukraine Waffen zu ihrer Verteidigung zu liefern, dann sollen sie auch nicht vergessen, dass Deutsche im Zweiten Weltkrieg auch in der Ukraine gemordet haben und deswegen historisch auch für sie verantwortlich sind«, sagt Anastasia. »Diese Diskussion bringt uns gerade ohnehin nicht weiter. Genau wie dieses Gerede über Pazifismus. Da konnte ich noch nie so viel mit anfangen.«

Die Jugend in Dauerkrise

»Damit konntest du nie etwas anfangen?«, frage ich.

»Natürlich sind Waffen nicht gut, aber manchmal sind sie notwendig. Und es ist auch schwer, Pazifistin zu sein, wenn du die Realitäten der Leute in Russland und anderen osteuropäischen Ländern kennst. Das sind Menschen, die niedergeknüppelt werden, wenn sie friedlich auf die Straße gehen, um für LGBTQ-Rechte oder eine Verfassungsänderung zu demonstrieren und dann gefoltert werden. Auf der anderen Seite haben wir Völker, die seit Jahrhunderten gegen den russischen Kolonialismus und für ihre Freiheit kämpfen.«

Sie winkt die Kellnerin heran. An Anastasias Hand, die die ganze Zeit unter dem Tisch versteckt war, ist jetzt gut erkennbar ein Band in ukrainischen Nationalfarben zu sehen. Während sie total rational von Kampf, Militäraufstockung und Bewaffnung spricht, übernehme ich den Job des Nickenden. Dabei ist es seltsam, plötzlich Vokabular wie Haubitzen, Mörser und Flugabwehrraketen zu lernen und in Cafégespräche zu integrieren, weil diese Begriffe aber immer mehr zu unserem Alltag gehören, erscheint in diesen Tagen eine Vorabveröffentlichung der neuesten Studie Jugend in Deutschland. Darin untersucht der Forscher Simon Schnetzer, Jahrgang 1979, was die Entwicklung für Menschen in meiner Generation bedeutet. Er hat Volkswirtschaft studiert, die Welt bereist und wohnt jetzt wieder in seiner Heimat, dem Allgäu, von wo aus er die Generation Z erforscht und mit seinem Wissen Unternehmen über die Eigenarten meiner Generation berät.

Zurzeit gibt es da ein paar Dinge, die ich selbst nicht verstehen kann. Wir treffen uns also im Videochat. Und zwar noch, bevor der Bundestag die Lieferung schwerer Waffen beschließt. Als sich das Bild einschaltet, sieht er nicht wie ich irritiert und amateurhaft in die Kamera. Er macht mit seinem Hemd, den gestylten Haaren und wachen Augen den sicheren Eindruck eines Mannes, der in YouTube-Werbungen erklären kann, wie man mit Steuererklärungen Spaß hat. Souverän präsentiert er seine Zahlen und seine Stimme wackelt auch beim Thema »Waffenlieferungen an die Ukraine« nicht. 40 Prozent der befragten 19- bis 29-Jährigen sind klar dafür, 25 Prozent dagegen. Ich sehe auf die weiteren Spalten der Tabelle. »Ich finde die Kategorie ›teils – teils‹ spannend«, sage ich und deute auf die dritte Spalte. Keine Ahnung, wie dies in der Praxis aussehen würde. Zum Zeitpunkt der Studienbefragung gab es die »Schweres Gerät«-Diskussionen noch nicht. Damals hieß es, Deutschland debattiere über Waffenlieferungen in die Ukraine. Genauere Informationen gab es nicht. Wie also eine »Teils-teils«-Waffenlieferung in der Praxis aussehen soll und ob manche Befragten dabei wie ich heimlich mit dem Gedanken spielten, dass ein Sturmgewehr doch weniger böse als so ein Panzer wirkt, weiß ich nicht. Aber irgendwie glaube ich, dass Simon mit dieser Kategorie zwischen klarem Ja oder Nein zu Waffenlieferungen einen Safe-Space für seine Befragten schaffen wollte. Wie bei einer Quizshow, in der der Kandidat zu einem Thema überhaupt keine Ahnung hat, aber einen Telefonjoker kontaktieren darf. Nur ist der in diesem Fall das eigene Gewissen.

Pazifismus ist einfach, wenn man nie Krieg erfahren hat

»Eigentlich leben wir seit 2015 in einem Dauer-Krisenmodus«, sagt Simon. »Da haben viele gelernt, die Krisen auszublenden, um nachzudenken, wie man aktiv helfen kann.«

»Aber man müsste doch gar nicht so viel Zeit mit Nachdenken verbringen«, sage ich wohl mehr zu mir selbst. Zumindest klinge ich ungewöhnlich aufbrausend auf meiner Tonbandaufnahme. »Die Ukraine sagt ja ganz klar, was sie braucht. Sie sagt: Wir brauchen Waffen, bitte gebt uns Waffen. Man würde also helfen, wenn man einfach Waffen schickt.«

»Ja, aber vergiss bitte nicht – und das wird dir wahrscheinlich genauso gegangen sein: Wir sind aufgewachsen, erzogen worden in eine Welt, in der zumindest in Europa kaum Krieg herrscht. Zumindest die, die hier in Deutschland aufgewachsen sind, haben Krieg nicht erlebt und wurden eher zum Pazifismus hin erzogen. Und insofern ist es schon auch konsequent zu sagen, Waffen lehne ich ab.«

Lässt sich auch leicht sagen, wenn man sich nie damit beschäftigen muss, denke ich. Waffen oder deren Benutzung tatsächlich abzulehnen, sind schließlich Themen unserer Vorgängergenerationen. Die Zeiten, in denen junge, linke Männer noch in Workshops lernten, wie man sicher ausgemustert wird, sind längst vorbei. Heute reicht es, einem rekrutierwilligen Jugendoffizier an einem Bundeswehr-Werbestand dasselbe vehemente Kopfschütteln entgegenzubringen, das man sonst nur Fundraisern an Bahnhöfen widmet.

Julian Pahlke wurde 1991 geboren und sechs Monate, bevor er sich gegen den Dienst an der Waffe entscheiden konnte, wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Das war 2011. Als er fünf Jahre später gesehen hatte, wie tödlich Europas Geflüchtetenpolitik im Mittelmeer war, wurde er aktiver Seenotretter. Letzten Herbst wurde er für die Grünen in den Bundestag gewählt. Ich rufe ihn an.

Das irritierende Aufweichen gesellschaftlich-moralischer No-Harm-Prinzipien

Die Grünen wurden auch von Pazifisten gegründet. Dass das nicht mehr der allgemeine Kurs der Partei ist, ist spätestens seit 1999 klar, als der grüne Außenminister Joschka Fischer deutsche Truppen für den Nato-Kriegseinsatz gegen einen Völkermord im Kosovo entsandte.

Eine neue Phase ist für Teile der Öffentlichkeit erreicht, seitdem Anton Hofreiter von Panzerlieferungen und Rüstungsexporten in die Ukraine so spricht, als ginge es darum, ein paar Agrargenossenschaften in der Lausitz mit Traktoren auszustatten. Er hat sich einfach ins Thema eingearbeitet, weil das Problem jetzt da ist, aber für Teile der Partei und Öffentlichkeit klingt er jetzt noch befremdlicher als früher, als er bei Parteitagen grüne Folklore predigte.

Julian Pahlke ist aber eben auch Seenotretter. Wenn jemand von so einem Aufweichen gesellschaftlich-moralischer No-Harm-Prinzipien irritiert sein sollte, dann doch er! »Ich habe ja immer gedacht, die scheiß Bundeswehr muss abgeschafft werden und eigentlich sollte dieses Kackland sowieso keine einzige Waffe mehr besitzen«, sage ich, um ihn in Schwung zu bringen. Um authentische Antworten zu diesem heiklen Thema zu bekommen, muss ich mich wie ein Verhaltensforscher meinem Umfeld anpassen, denke ich.

Er räuspert sich. »Nun, das klingt mir jetzt ein bisschen zu sehr nach Stammtischparole.« Aber noch bevor ich darauf etwas erwidern kann, ergänzt er schnell: »Ich weiß dennoch, was du ungefähr meinst.« Er räuspert sich ein weiteres Mal. »Das Thema war ermüdend: Das, was man von der Bundeswehr mitbekommen hatte, war ja durchgehend negativ – Rechtsextremismus, enorme Kosten, mangelhafte Ausstattung. Es ist so, dass die Bundeswehr überflüssig wirkte. Und ich glaube, dass sich das grundlegend geändert hat. Weil wir gerade feststellen, dass diese Bundeswehr als Teil der ebenso vergessenen Nato das ist, was uns gerade hier unsere Ordnung und unseren Frieden bewahrt. Und der beginnt genau an der Grenze von der Ukraine zu Polen. Und ja, wir müssen erkennen, dass wir eine funktionierende Bundeswehr brauchen, die ihre Aufgaben erfüllen kann und gut ausgestattet ist.«

Grüne, linke »Woke«-Menschen betonen die Sinnhaftigkeit von Bundeswehr und Nato

»Damit befürwortest du ja indirekt auch die Rüstungsindustrie, verbietet sich das für jemanden wie dich nicht?«, sage ich. »Ich meine, du als Seenotretter hast doch ständig erfahren, was Waffen für Leid verursachen.«

»Aber die Menschen, die ich während dieser Arbeit sehe, flüchten aus Ländern, die terroristische Regime aufgebaut haben. Natürlich ist es falsch, diese Länder mit Waffen zu beliefern. Aber deswegen starr an einem ›Keine Rüstungsexporte‹-Dogma festhalten? Die Ukraine ist eine angegriffene Demokratie, die sich verteidigen will und dabei Waffen braucht. Ja, das sind neue Themen. Aber wir als Demokraten zeichnen uns doch dadurch aus, dass wir lernfähig sind, neue Situationen als Gemeinschaft neu bewerten können und weiterkommen, wenn wir uns nicht an alten Dogmen festhalten.«

Nach dem Gespräch weiß ich nicht mehr, wieso ich vorher so sehr geglaubt habe, dass gerade jemand wie Julian Pahlke Schwierigkeiten hätte, seine bisher von mir vermuteten Prinzipien anzupassen. Ich bin mir nicht einmal so sicher, ob er diese Prinzipien vorher hatte. Er hat sich seit Jahren mit den Missständen seines unmittelbaren Umfelds beschäftigt und kurz vor seinem Einzug in den Bundestag gesagt, dass ihn die Dinge umtreiben, die seine Generation am meisten bewegen: Flucht und Migration und der Klimawandel.

Der Krieg in der Ukraine reiht sich in dieses Gefüge und beeinflusst jedes dieser Themen. Dass grüne, linke »Woke«-Menschen wie er jetzt die Sinnhaftigkeit der Bundeswehr und der Nato betonen, wirkt vermutlich nur deshalb noch etwas edgy, da es bisher nie notwendig schien, durchzuspielen, wie wehrfähig Deutschland und die EU sein müssen. Vielleicht wirkt es aber schon gar nicht mehr edgy, sondern wirklich edgy scheinen jetzt eher die, die allerhöchstens selbstgebastelte Friedenstauben als einzig akzeptablen deutschen Export in die Ukraine dulden. Vermutlich hat das auch damit zu tun, dass der Wunsch, woke zu sein und dadurch Boden unter den Füßen zu haben, eine Opferperspektive beinhaltet, und in diesem Fall sind die Ukrainer die Opfer, für die alles getan werden muss, denen Waffenlieferungen und überhaupt die bedingungslose Solidarität gebührt.

Foto: Michael Danner

Die globalen Krisen hinterfragen das eigene Selbstbild

Das funktioniert vielleicht bei einigen. Aber längst nicht bei allen. Die neuerdings nebeneinander sichtbaren und sich potenzierenden globalen Krisen scheinen etwas Grundsätzliches anzukratzen. Sie hinterfragen das eigene Selbstbild, das sich nur ungern flexibel gegenüber äußeren Umständen verhält, da es doch eine der wenigen Konstanten im Leben sein soll.

»Sieht so gute Hilfe aus in deinen Augen?«, fragt es dann. »Mit Waffen? Mit Gewalt? Was kommt als Nächstes, hm?«

Früher dachte das Gewissen: Nein, keine Waffen.

Dann habe ich mitbekommen, dass es inzwischen moralisch in Ordnung sein kann, Waffen zu liefern. Möglichst schwere, damit die Ukrainer:innen überhaupt eine Chance im Krieg haben. Wir kämpfen ja nicht selbst. Das Gewissen sagte: Wie kann man dagegen sein?

Dann hat mir Elena plötzlich erzählt, den offenen Brief von Juli Zeh, Alexander Kluge und anderen Intellektuellen an Olaf Scholz unterschrieben zu haben, die anmerken, dass diese Theorie zu einfach gedacht ist und ihn bitten, weitere Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine zu überdenken. Dass dies doch kein Weg sein könne, um einen Waffenstillstand zu bezwecken.

Die Ruhe ist hin

Ich war erst irritiert, dass sie jetzt auch zu den dogmatischen Pazifist:innen gehört, die ich hinter diesen Unterzeichner:innen vermutete, ohne den Brief überhaupt gelesen zu haben. Wir hatten uns doch gerade geeinigt, dass Waffenlieferungen das ethisch Korrekteste sind. Wer #standwithUkraine postet, muss auch Panzer liefern lassen.

Elena erklärte, dass sie zwar nicht unbedingt hinter den Argumenten des Briefes stand, aber sich einen offeneren politischen Diskurs über die Kriegsmaßnahmen wünschte und deshalb unterschrieben habe. Ich unterschrieb nicht, da ich nicht als jemand gesehen werden wollte, »der nicht voll zur Ukraine steht«.

Es war schon angenehm, als man sich damit beschäftigte, »Make Pizza, not war!« auf Transparente zu malen und damit fein raus war.

Die Ruhe ist hin.

Wir sind plötzlich die junge Generation, die sich zum realen Krieg real verhalten muss. Bisher waren wir nur die, die für ihren Frieden nichts tun musste.

Dieser Beitrag ist im Juni 2022 in taz FUTURZWEI N°21 erschienen.

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