Datenlöschung bei NSU-Aufklärung: Bayerns LKA löscht 565.000 Daten

Der bayerische NSU-Untersuchungsausschuss hat den LKA-Chef einbestellt. Seine Behörde hatte Daten im großen Stil gelöscht.

Logo LKA und Bayernwappen, dahinter unscharf ein Rechnerraum

Rechenzentrum des LKA München Foto: Matthias Balk/dpa

MÜNCHEN taz | Die Sache sei schon sehr misslich, gestand Harald Pickert, Präsident des bayerischen Landeskriminalamts, am Donnerstag im Weiße-Rose-Saal im bayerischen Landtag ein. Der NSU-Untersuchungsausschuss war zu seiner sechsten Sitzung zusammengetreten, Pickert als Zeuge geladen. Er wolle sich in aller Form entschuldigen, und ja, es sei ein Fehler passiert, Datensätze seien gelöscht werden. Pickert machte aber auch keinen Hehl daraus, dass er die Folgen der Panne für nicht besonders gravierend hält: „Ich gehe davon aus, dass die für Ihre Arbeit relevanten Informationen noch vorhanden sind.“

Die Vertreter der Oppositionsparteien sind da skeptisch. Das machte auch Ausschussvorsitzender Toni Schuberl von den Grünen gleich zu Beginn der Sitzung klar. Es seien immerhin trotz eines bestehenden Löschmoratoriums 565.000 Datensätze zu 29.000 Personen gelöscht worden. Mindestens eine Person habe in einem Zusammenhang mit dem Untersuchungsauftrag des Ausschusses gestanden. Der genaue Umfang des Schadens sei noch nicht absehbar, man wisse auch nicht, wie viele Daten rekonstruierbar seien.

Gerade die Frage, welche Personen tatsächlich einen Bezug zum NSU-Komplex hätten, sei ja „eine der großen offenen Fragen“, über deren Bewertung es unterschiedliche Meinungen gebe. Schlimmstenfalls, befürchtete Schuberl, seien nun Hinweise auf weitere Unterstützer der Terrorzelle verschütt gegangen. Obwohl er vorsichtig optimistisch sei, dass die Arbeit des Untersuchungsausschusses durch die Datenpanne nicht massiv behindert werde, müsse man sehr skeptisch sein. „In dem Komplex gab es bereits zu viele Zufälle. Das gebietet es, misstrauisch zu sein.“ Schubert erinnerte an etliche dubiose Datenlöschungen in der Geschichte der NSU-Ermittlungen wie die „Operation Konfetti“, bei der das Bundesamt für Verfassungsschutz Akten zum Einsatz eines V-Manns in Thüringen gelöscht habe.

Krasser Fall von Schlamperei

Auch Matthias Fischbach, für die FDP im Ausschuss, zeigte sich alarmiert. Noch aus der laufenden Sitzung heraus versendete der Abgeordnete eine Pressemitteilung, in der er ebenfalls auf die Datenlöschungen hinwies, die es bereits in diversen Ermittlungsbehörden gegeben habe. „Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss sollte eigentlich gerade das Ziel verfolgen, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen“, schreibt Fischbach dort. „Dass die nun dargestellte Löschung kurz nach Bekanntwerden der Planung dieses Untersuchungsausschusses erfolgte, ist deshalb besonders heikel.“ Er fordert eine detaillierte Aufklärung, wie es zu der Panne habe kommen können. Dazu seien auch weitere Zeugenbefragungen nötig.

Für die Panne war nach der Erklärung des LKA-Präsidenten offenbar ein fehlerhaftes Skript verantwortlich, das genau an dem Tag, als es auch im Innenausschuss um die Einsetzung des Untersuchungsausschusses ging, einen eigentlich deaktivierten Löschmodus wieder aktivierte. Der Fehler sei damals zwar schon Systemadministratoren des LKA entdeckt und korrigiert, aber nicht weitergegeben worden, weshalb man in der LKA-Leitung erst im Juni darauf gestoßen sei. Ein „krasser Fall von Schlamperei und Chaos im LKA“, konstatierte Ausschuss-Chef Schuberl.

Laut Pickert sind von der Löschung allerdings höchstwahrscheinlich keine Datensätze betroffen, die nicht weiterhin auch an anderer Stelle, überwiegend auf Papier existierten. Es sei vielmehr eine komfortable grafische Oberfläche betroffen gewesen, in die die Originaldaten überführt worden seien. Er könne zwar „nicht einhundertprozentig“ ausschließen, dass vereinzelt Daten verloren gegangen seien, gehe aber nicht davon aus. Im Prinzip sei sogar alles, was gelöscht worden sei, wieder rekonstruierbar.

Entsprechend undramatisch sieht die CSU die Angelegenheit. Vize-Ausschussvorsitzender Josef Schmid meinte, das klinge ja jetzt „noch weniger schlimm“ als in einem ersten nicht öffentlichen Bericht des LKA-Präsidenten. Und sein Parteikollege Norbert Dünkel zeigte sich von der ganzen Nachfragerei der Oppositionsparteien genervt: „Wir sind ja hier nicht der Häkchen-Ausschuss.“ Man solle doch nun wieder zur inhaltlichen Arbeit zurückkehren.

In Bayern ermordete der NSU fünf Menschen

Der Untersuchungsausschuss war am 19. Mai eingesetzt worden. Alle Fraktionen hatten seiner Einsetzung zugestimmt – auch wenn die Regierungsfraktionen CSU und Freie Wähler sowie die FDP Skepsis angemeldet hatten, ob der Ausschuss nach so langer Zeit tatsächlich noch neue Erkenntnisse gewinnen könne. Es ist bereits das zweite Mal, dass sich ein solcher Ausschuss im bayerischen Landtag mit dem NSU-Komplex beschäftigt. 2013 hatte der erste seine Arbeit abgeschlossen. Auch im Bund und anderen Bundesländern gab es bereits Untersuchungsausschüsse – insgesamt 13 Stück. Ein 14. bearbeitet das Thema derzeit in Mecklenburg-Vorpommern.

Das Gremium soll erneut die Hintergründe der Terrorverbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ in Bayern beleuchten. Hier fand die Hälfte der NSU-Morde statt: In Nürnberg wurden Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yasar, in München Habil Kilic und Theodoros Boulgarides von den Terroristen umgebracht. Das besondere Augenmerk des Ausschusses wird dabei auf ein etwa in Nürnberg sehr aktives Unterstützernetzwerk in der Neonazi-Szene gelegt werden. Hier interessieren sich die Abgeordneten beispielsweise für das noch immer nicht aufgeklärte Taschenlampenattentat auf eine Nürnberger Kneipe, bei dem der Wirt schwer verletzt worden war.

Auch die Rolle der Behörden steht bei den Ermittlungen im Fokus der Parlamentarier: Wie war es möglich, dass die Terrorzelle über ein Jahrzehnt lang unbehelligt blieb und in dieser Zeit zehn Morde und etliche weitere Verbrechen begehen konnte? Warum wurden lange Zeit vor allem die Opfer verdächtigt? Ermittelte die Polizei einseitig? Seine Arbeit muss der Ausschuss bis zum Ende der Legislatur im Herbst 2023 zu Ende gebracht haben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Mit der taz Bewegung bleibst Du auf dem Laufenden über Demos, Diskussionen und Aktionen gegen rechts.

Hier erfährst du mehr

Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.