Die Normalität des Unmenschlichen: Du sollst töten!

Warum plündern und vergewaltigen Soldaten und ermorden Zivilisten zum Zeitvertreib? Weil der Krieg alle moralischen Maßstäbe verschiebt.

Russische Soldaten im zerstörten Eisen- und Stahlwerk in Mariupol Foto: picture alliance/dpa/AP

Von JÖRG BABEROWSKI

»Wieder einmal ist mir das Herz gebrochen«, schrieb die Dichterin Sofja Tolstaja im März 1904 in ihr Tagebuch, weil sie nicht verstehen konnte, dass Russland gegen Japan in den Krieg zog. »Diese neue Erfahrung ist ein schwerwiegender Einschnitt in meinem Leben. Was heißt eigentlich Krieg? Kann denn tatsächlich ein einziger törichter Mensch […] so viel Böses anrichten? Plötzlich scheint mir der Krieg gleich dem Unwetter wie eine erbarmungslose Elementargewalt.«

Nun ist es wieder geschehen. Auch Putin hat geglaubt, er könne die Ukraine mit leichter Hand niederwerfen. Seine Truppen würden die Grenzen überschreiten, Charkiw und Kiew besetzen, dachten seine Generäle, und schon würden sich ihnen die ukrainischen Streitkräfte vor die Füße werfen. Es kam anders. Die russische Armee erlitt furchtbare Verluste an Menschen und Material, die Kampfmoral ihrer Soldaten sank, aus manchen Regionen musste sie sich zurückziehen. Der Blitzkrieg verwandelte sich in einen zermürbenden Zerstörungskrieg, in dem es nur noch darum geht, die Ressourcen des Gegners, seine Städte und Infrastruktur zu vernichten.

Als sich vor einigen Wochen die Nachricht verbreitete, im ukrainischen Städtchen Butscha hätten Soldaten der russischen Invasionsarmee ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt, war die Verstörung groß. Wie konnte es geschehen, dass Wohnungen geplündert, Frauen vergewaltigt, manche Menschen scheinbar wahllos erschossen, andere gefoltert und hingerichtet wurden?

Dieser Krieg kennt nur Verlierer

Wer darin allerdings nur die Mordlust einer ideologisch zugerichteten und durch Propaganda aufgehetzten Soldateska zu sehen vermag, hat vom Krieg und seiner Dynamik nichts verstanden. Denn die jungen Männer, die in diesen Krieg geschickt wurden, waren auf den Überfall nicht einmal eingestimmt worden. Man hatte ihnen gesagt, sie zögen ins Manöver. In Wahrheit kennt dieser Krieg keine heldenhaften Weltanschauungskrieger, sondern nur Verlierer, die in einen Kampf geworfen werden, dessen Sinn sie nicht verstehen.

Der Krieg verändert alles. Kein anderes Geschehen bringt den Menschen so sehr zu Bewusstsein, das Leben nicht zu ihrer freien Verfügung zu haben. Das erste Gefecht öffnet das Tor zu einer neuen Welt, in der andere Regeln gelten und das Selbstverständliche zum Außergewöhnlichen, das Außergewöhnliche zum Alltäglichen wird. Die Soldaten sehen, wie Kameraden in ihrem Panzer bei lebendigem Leib verbrennen, sie hören die unmenschlichen Schreie der Verwundeten, die mit abgetrennten Gliedmaßen und verbrannten Gesichtern auf der Straße liegen, um sie herum Tod und Verwesung. Jetzt wollen sie die anderen nur noch überleben, nicht erleiden, was ihre verwundeten und getöteten Kameraden erlitten haben. Darum geht es in allen Kriegen: töten, um nicht getötet zu werden.

In wenigen Tagen und Wochen verschieben sich für die Soldaten alle moralischen Maßstäbe, die im Frieden selbstverständlich gewesen waren. Gestern noch war es verboten, Menschen zu töten, und heute schon ist es nicht nur erlaubt, sondern geboten. Bald weiß der Soldat, der ins Gefecht geschickt wird, dass sein Überleben einzig von der Fähigkeit abhängt, das Leben anderer Menschen auszulöschen. Er macht aber auch die Erfahrung, dass die Primärgruppe, in der er dient, sein Zuhause, seine Lebensversicherung ist, und so bindet er sich an Kameraden und Offiziere, weil allein sie ihm Halt in einer unsicheren, gefährlichen Welt geben. Das ist der eigentliche Grund, warum Soldaten auch dann weiterkämpfen, wenn es für sie nichts mehr zu gewinnen gibt. Davon wissen auch die Offiziere, deren Geschäft es ist, die Angst ihrer Soldaten um jeden Preis unter Kontrolle zu bringen.

Gewalt wird zur Normalität

Je länger der Krieg dauert, desto größer ist die Gefahr, dass die Gegenwart von Tod und Verwundung so sehr zur Normalität wird, dass die Soldaten das Leben im Frieden für eine Anormalität halten, sich zurücksehnen an die Front, wo all diejenigen leben, die mit ihnen Erfahrungen und Erinnerungen teilen, die in einer befriedeten Welt überhaupt nicht verstanden werden würden. Soldaten gewöhnen sich an das, was sie tun, manchen gefällt es aber auch, andere Menschen zu töten oder unbegrenzte Macht über sie auszuüben. Auf diesem fruchtbaren Grund wachsen die Gräuel, von dem kein Krieg je verschont geblieben ist.

Zwar haben sich die Staaten auf Regeln verständigt, was im Krieg erlaubt, und was verboten sein soll. Aber immer wieder kommt es zu Massakern, Vergewaltigungen und Gräueltaten, ganz gleich, woran der einzelne Soldat glaubt, und welchem Zweck der Krieg dienen mag, in den er geworfen wird. Soldaten töten in Gruppen, fügen sich in den Rhythmus der Masse, die sich auf den Gegner zubewegt. In der Masse aber gehorcht der Soldat dem Gesetz der Bewegung. Er sieht, was die anderen tun, lässt sich mitziehen in den Strom des Angriffs und vergisst, was er einst gewesen war. Soldaten sehen die zerfetzten Körper der Kameraden, die neben ihnen gefallen sind, hören die Einschläge der Granaten, können an nichts anderes denken, als daran, die nächste Stunde zu überleben. Unmittelbar nach dem Ende solcher Gefechte wächst die Gefahr, dass die Sieger sich vergessen, Kriegsgefangene misshandeln oder erschießen, aus Wut und Erbitterung über die Verluste, die ihnen der Gegner beigebracht hat. Solche Gewalttaten geschehen aber auch aus Frustration: wenn Soldaten der technischen Übermacht des Gegners nichts entgegenzusetzen haben, dem Hagel der Bomben hilflos ausgeliefert sind, wenn die eigene Armee sie nicht einmal mehr mit Munition und Verpflegung versorgen kann.

Die russische Armee ist schon immer ein großes Gefängnis gewesen, in dem die Soldaten von ihren Offizieren wie Leibeigene behandelt und gedemütigt wurden. Nichts hebt das Selbstwertgefühl der Gedemütigten so sehr wie die Erniedrigung, in die sie andere Menschen stoßen. Einmal in ihrem Leben dürfen sie, die stets nur Opfer gewesen waren, Macht ausüben. Darin liegt eine Verlockung, der die meisten Soldaten nicht widerstehen können. Soldaten, die nicht einmal einen warmen Platz finden, an dem sie schlafen können, die plündern und rauben, empfinden nicht nur ihre Nichtigkeit im Angesicht eines Krieges, den sie nicht beenden können. Sie spüren die Angst der Zivilisten, denen sie Mobiltelefone und Laptops abnehmen, deren Häuser sie ausrauben und in deren Wohnungen sie sich einquartieren. Sie fahren, wie in Butscha geschehen, auf gestohlenen Fahrrädern im Dorf umher, vergewaltigen Frauen und schießen auf Menschen, um sich die Zeit zu vertreiben.

Soldaten gehorchen auch gegen ihren Willen

Soldaten dienen in einer totalen, hierarchisch gegliederten Institution. Niemand kann sie verlassen, ohne Strafen zu riskieren, und solange die Offiziere Disziplin durch Drohungen erzwingen, gehorchen Soldaten auch gegen ihren Willen. Der Gruppendruck ist groß. Niemand will die Kameraden im Stich lassen, als Feigling gelten oder unehrenhaft aus der Einheit verstoßen und bestraft werden.

Schon in Friedenszeiten ziehen es die meisten Menschen vor, sich konform zu verhalten. Was aber will man von einem Soldaten verlangen, der in den Krieg geworfen wird? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er sich Befehlen seiner Vorgesetzten und dem Druck seiner Kameraden widersetzt, wenn es für ihn keinen anderen Ausweg gibt. Die Offiziere wissen um den Ehrenkodex und den Gruppendruck, auf dem der Zusammenhalt der Truppe beruht, und sie wissen um die Ventile, die sie öffnen müssen, um die Gewalt bei Bedarf aus dem Gehege zu lassen. Die schlimmsten Kriegsverbrechen geschehen, wenn Offiziere ihren Soldaten zu verstehen geben, das straflos bleibt, was sie tun und sich herumspricht, dass die Misshandlung und Tötung von Zivilisten zur militärischen Strategie gehören.

Nichts ist verlockender für Tyrannen, als die Gewalt vollständig zu entgrenzen. Jetzt redet man den Soldaten ein, dass die ukrainischen »Brüder« Verräter seien, die man habe töten dürfen, weil sie eigentlich »Landsleute« und deshalb Partisanen, aber keine Soldaten seien. Wer Kriegsverbrechen begeht, Frauen vergewaltigt und Zivilisten tötet, muss aber damit rechnen, dass der Gegner es mit gleicher Münze heimzahlt, dass nach der Niederlage der Tag der großen Abrechnung kommt. Die Angreifer wissen, dass sich auch die Verteidiger aller Skrupel entledigen, und dass sie nur geringe Überlebenschancen haben, wenn sie ihren Gegnern in die Hände fallen. Der Zerfall militärischer Disziplin und die Enthemmung der Soldaten ist der Preis, der für solche Strategien entrichtet werden muss.

Je größer der Schrecken ist, den der Krieg verursacht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Putins Soldaten die Waffen auch dann nicht strecken werden, wenn sie den Kampf zu verlieren drohen. Herrschaft, die bedroht ist, weiß, dass sie sich die Angst der eigenen Soldaten vor dem Untergang zu ihrer effektivsten Waffe machen muss, um die Katastrophe noch abzuwenden, dass keine Waffe so wirksam ist wie der Terror. Manche glauben, dass Aufrüstung, Eskalation und Heldenmut die Gebote der Stunde seien, um der Aggression ein Ende zu bereiten. Je länger aber der Krieg dauert, desto tiefere Wunden schlägt er in die Körper und Seelen der Menschen und desto unwahrscheinlicher ist es, dass es gelingen wird, seine psychischen und physischen Folgen zu bewältigen. Wer von alldem nichts weiß, sollte den Krieg nicht leichtfertig herbeireden.

JÖRG BABEROWSKI ist Historiker und Gewaltforscher und Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Dieser Beitrag ist im Juni 2022 in taz FUTURZWEI N°21 erschienen.

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