Begegnung mit einem Kind im Park: Die Pfandsammlerin

Erst dachte ich, das zehnjährige Mädchen auf dem Tretroller wäre ein gutes Beispiel für Selbstständigkeit. Dann begriff ich ihre Not.

Eine leere Wasserflasche steckt in einem Abfalleimer.

Sichtbare Armut: Laut einer Studie sammeln knapp eine Million Menschen in Deutschland Pfandflaschen Foto: dpa / Martin Gerten

Ein Mädchen fährt auf dem Roller durch den Park. An ihren Lenkern baumeln jeweils zwei stabile Einkaufstüten. Darin klimpern Pfandflaschen. Das Mädchen ist vielleicht neun, zehn Jahre alt. Sie trägt neue pinke Kleidung. Sie hat einen langen blonden Pferdeschwanz, ein fein geschnittenes Gesicht und blaue Augen. Sie schaut in jeden Mülleimer, hebt Pfandflaschen vom Boden auf. Aus manchen schüttet sie noch Flüssigkeit, bevor sie sie in ihre Tüten steckt.

Es hat etwas Spielerisches, wie sie das macht. Zum nächsten Mülleimer rollern, hineinsehen. Wenn sie weiterfährt, suchen ihre Augen die Erde ab. Sie ist allein, kein Erwachsener und kein anderes Kind sind bei ihr.

Sie scheint sich so Taschengeld dazuzuverdienen. So viele Pfandflaschen liegen im Park und in den Straßen. Flaschen für umgerechnet 25, 15, 8 Cent. Eine Art weggeworfenes Geld, das vor allem ärmere, erwachsene Menschen aufheben. Nach einer Studie sammeln 980.000 Menschen in Deutschland aktiv Pfand. Kinder sieht man so gut wie nie Flaschen sammeln. Es hat etwas Erwachsenes, Geschäftstüchtiges, sie so zu sehen. Wenn Kinder allein einer Beschäftigung nachgehen, die kein Spiel darstellt, hat das oft etwas Interessantes: Was treibt das Kind an, was geht ihm jetzt wohl durch den Kopf?

Das Mädchen nimmt vor allem die Einwegflaschen, die 25 Cent Pfand einbringen. Sie wird bestimmt mal eine clevere Geschäftsfrau, wenn sie sich jetzt schon so selbstständig Geld dazuverdient. Dann fährt sie zur Skatebahn in der Mitte des Parks. Hier flitzen Kinder auf Rollern und Rollschuhen, viele begleitet von ihren Eltern. Skater in weiten Hosen probieren Tricks aus.

Das Mädchen beachtet die anderen Kinder nicht

Das Mädchen stellt ihren Roller mit den Tüten am Rand der Bahn ab. Sie läuft jetzt mitten auf die Bahn, zu den Mülleimern dort. Sie weicht den Kindern in ihrem Alter aus und den älteren Skatern. Sie beachtet sie gar nicht. Sie hat nur Augen für das Pfand. Die anderen auf der Bahn fahren, lachen und probieren sich aus, Versuch um Versuch. Musik klingt aus Boxen. Alle hier sind unbeschwert. Die Zeit fließt.

Das Mädchen läuft zielstrebig zu jedem Mülleimer. Dose um Dose, Flasche um Flasche sammelt sie ein. Dann kommt sie mit ihrer Beute zu ihrem Roller zurück. Ein Impuls führt dazu, sie anzusprechen: „Du sammelst Pfandflaschen?“ Sie schaut überrascht, herausgerissen aus ihrer Welt: „Nicht verstehen“, sagt sie leise. Eine neue Frage an sie, geleitet von einer Ahnung: „Russkij?“ Das Mädchen nickt mit dem Kopf. Ein Lächeln, ein Daumen nach oben, um ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung ist. Sie steckt die Flaschen in ihre Tüten.

Auf einmal kippt die ganze ausgedachte Geschichte: Das Mädchen, das sich ihr Taschengeld aufbessert. Die es raus hat, die anders als die anderen Kinder schon weiß, wie man clever Geld verdient. Die Geschichte hängt jetzt am falschen Haken. Ist dieses Kind eine Geflüchtete? Ein Mädchen aus der Ukraine? Wofür sammelt sie? Für sich, ihre Familie? Und was soll eigentlich geschäftstüchtig daran sein, dass ein Kind Pfand sammelt? Darunter bestimmt auch Flaschen, in denen Alkohol war.

Auf einmal ist das Sammeln kein produktives Alleinsein mehr. Ein kindliches Spiel, das Erwachsensein auszuprobieren. Es hat etwas Einsames. Aus einer Not Entstandenes. Müsste dieses Kind jetzt nicht mit den anderen Kindern zusammen spielen, vielleicht so Deutsch lernen? Im April hieß es nach UN-Angaben, dass fast zwei Drittel aller ukrainischen Kinder auf der Flucht seien. Was hat dieses Mädchen zurückgelassen? Ihre Familie, Haustiere, Spielsachen, Freunde?

Wieder eine Geschichte. Wenn sie stimmt, wäre das Kind eines von vielen, hier an einem neuen, fremden Zufluchtsort. Wie wird es mit ihr weitergehen? Das Mädchen fährt fort, nimmt eine Flasche auf, schüttet Flüssigkeit aus, rollt weiter allein durch den Park.

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Christa Pfafferott schreibt die Kolumne "Zwischen Menschen" für die taz. Sie wurde zum Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg promoviert. Sie hat zuvor Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Sie lebt als Autorin und Regisseurin in Hamburg.

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