+++ Nachrichten zum Ukrainekrieg +++: Kiew verstimmt über Worte von Biden

Im Donbass setzt Russlands Militär Geschosse aus den 1960er Jahren ein. Ursula von der Leyen besucht Kiew, und Polens Regierung kritisiert Deutschland.

Zwei Menschen fotografieren in einer von Artilleriebeschuss völlig zerstörten Wohnung

Journalisten fotografieren die Folgen russischer Angriffe auf Wohnhäuser in der Region Saporischschja Foto: dpa

London: Sjewjerodonezk immer noch heftig umkämpft

Ukrainer und Russen liefern sich nach Angaben der britischen Regierung heftige Straßenkämpfe um die ostukrainische Großstadt Sjewjerodonezk. Beide Seiten dürften wahrscheinlich eine hohe Zahl an Opfern erleiden, schrieb das britische Verteidigungsministerium am Samstag in seinem regelmäßigen Geheimdienst-Update zur Lage im Ukraine-Krieg.

Die strategisch wichtige Industriestadt Sjewjerodonezk ist die letzte Großstadt im Gebiet Luhansk, die sich noch nicht vollständig unter russischer und prorussischer Kontrolle befindet. Gekämpft wird um sie bereits seit Wochen.

Außerdem meldeten die Briten, die russischen Luftstreitkräfte hätten mangels modernerer Waffen seit April Dutzende alte, unpräzise Schiffsabwehrraketen gegen Ziele an Land verwendet. Die Geschosse vom Typ Kh-22 stammten aus den 1960er Jahren und seien eigentlich dafür entwickelt worden, Flugzeugträger mit einem Atomsprengkopf zu zerstören.

Setze man sie stattdessen bei einem Bodenangriff mit einem konventionellen Sprengkopf ein, seien sie sehr ungenau und könnten somit erhebliche Kollateralschäden und zivile Opfer verursachen, hieß es in dem Update. Russland verwende diese ineffizienten Waffensysteme wahrscheinlich, weil es den Streitkräften an moderneren und präziseren Waffen fehle. (dpa)

Polen: Militärhilfe aus Deutschland bleibt mangelhaft

Polen hat der Bundesregierung mangelndes Engagement bei der versprochenen Lieferung von Panzern vorgeworfen. „Die Gespräche sind ins Stocken geraten. Man sieht keinen guten Willen, hoffen wir, dass sich das ändert“, sagte der Chef des Nationalen Sicherheitsbüros beim Präsidenten, Pawel Soloch, am Samstag dem Sender Radio Rmf.fm. Die Verteidigungsministerien seien dazu im Kontakt.

Man habe in Berlin darum gebeten, Panzer zu erhalten, mit denen Panzer ersetzt werden sollen, die Polen an die Ukraine abgegeben hat, sagte Soloch. „Die deutsche Militärhilfe – sei es für die Ukraine oder sei es die Unterstützung von Ländern, die diese Hilfe leisten – bleibt hinter den Erwartungen zurück.“

Polen unterstützt sein Nachbarland mit Panzern des sowjetischen Typs T-72. Warschau hat bereits deutlich gemacht, dass es dafür Ausgleich von Nato-Partnern erwartet, auch von Deutschland. Ein großer Teil des Panzerarsenals in den polnischen Streitkräften bestehe aus deutschen Panzern vom Typ Leopard. (dpa)

Biden: Selenskyj wollte Warnungen vor Überfall nicht hören

Die politische Führung in Kiew hat verstimmt auf Äußerungen von US-Präsident Joe Biden reagiert, wonach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor Kriegsbeginn die von Russland ausgehende Gefahr nicht ernst genug genommen haben soll. Bei einer Fundraiser-Veranstaltung am Freitagabend in Los Angeles hatte Biden gesagt, es habe bereits vor dem 24. Februar Beweise dafür gegeben, dass Kremlchef Wladimir Putin die Ukraine überfallen wolle. Dann fügte er hinzu: „Es gab keinen Zweifel. Und Selenskyj wollte es nicht hören – viele Leute wollten es nicht.“

„Die Phrase „wollte nicht hören“ bedarf sicherlich einer Erläuterung“, sagte am Samstag der ukrainische Präsidentensprecher Serhij Nykyforow. Selenskyj habe die internationalen Partner immer wieder dazu aufgerufen, präventiv Sanktionen zu verhängen, um Russland zu einem Abzug der damals bereits in der Grenzregion zur Ukraine stationierten Truppen zu zwingen, sagte Nykyforow der Onlinezeitung Liga.net. „Und hier kann man schon sagen, dass unsere Partner „uns nicht hören wollten““, sagte er. (dpa)

Von der Leyen in Kiew wegen den EU-Beitrittsplänen der Ukraine

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist zu Gesprächen über die ukrainischen EU-Beitrittspläne in Kiew eingetroffen. Gemeinsam mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wolle sie eine „Bestandsaufnahme der für den Wiederaufbau benötigten gemeinsamen Anstrengungen und der Fortschritte der Ukraine auf ihrem europäischen Weg vornehmen“, erklärte von der Leyen am Samstag bei ihrer Ankunft in Kiew.

Die Gespräche mit Selenskyj und Ministerpräsident Denys Schmygal würden „in unsere Bewertung einfließen, die wir demnächst vorlegen werden“, sagte sie mitreisenden Journalisten. Die EU-Kommission wird voraussichtlich kommende Woche vor dem EU-Gipfel am 23. und 24. Juni ihre Einschätzung dazu vorlegen, ob der Ukraine der Status als Beitrittskandidat gewährt werden sollte.

Die Ukraine hatte Anfang März, wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf das Land, einen EU-Beitrittsantrag gestellt. Mehrere EU-Staaten unterstützen das ukrainische Beitrittsersuchen. Einige Länder wie die Niederlande, Dänemark und Frankreich stehen dem Vorhaben jedoch skeptisch gegenüber. Mehrere europäische Staats- und Regierungschefs dämpften die Hoffnungen der Ukraine auf eine baldige EU-Mitgliedschaft.

Sollte Brüssel den 27 Mitgliedstaaten einen Kandidatenstatus für die Ukraine empfehlen und sollten alle Länder dem zustimmen, könnten die eigentlichen Beitrittsverhandlungen beginnen, die Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern können.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich bislang zurückhaltend zu dem Thema. Die Unionsfraktion bereitet laut einem Bericht der „Welt“ einen Bundestagsantrag vor, mit dem die Bundesregierung aufgefordert werden soll, die Einräumung eines EU-Kandidatenstatus für die Ukraine sowie für Georgien und Moldau zu unterstützen.

Für von der Leyen ist es bereits der zweite Besuch in der Ukraine seit Kriegsbeginn. Bei ihrem vorherigen Besuch Anfang April hatte sie Kiew eine „europäische Zukunft“ prophezeit. (afp)

Selenskyj warnt vor weltweiten Hungerrevolten

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vor weltweiten Hungerrevolten als Folge des russischen Angriffskrieges gegen sein Land gewarnt. „Wenn wir unsere Lebensmittel nicht exportieren können, dann wird die Welt mit einer schweren Lebensmittelkrise und Hunger in vielen Ländern Asiens und Afrikas konfrontiert werden“, sagte der 44-Jährige vor Besuchern des Sicherheitsforums „Shangri La Dialogue“ in Singapur, dem er am Samstag per Video zugeschaltet war. Der Lebensmittelmangel könne zu politischem Chaos und dem Sturz von Regierungen vieler Länder führen.

Faktisch blockiert die russische Marine seit Beginn des Angriffskriegs vor mehr als drei Monaten die ukrainischen Schwarzmeer-Häfen oder hat die Häfen in Mariupol oder Cherson besetzt. Die Ukraine, weltweit der viertgrößte Getreideexporteur, sitzt deshalb auf den eigenen Vorräten fest. Außerdem wirft die Ukraine Russland den Diebstahl von großen Mengen Getreide vor. Moskau wiederum macht für die Krise die Ukraine verantwortlich, weil die sich weigere, Seeminen zu räumen. Die Ukraine setzt nach eigenen Angaben die Minen zur Verteidigung und zum Schutz vor russischen Kriegsschiffen ein. (dpa)

Cholera- und Ruhr-Ausbruch in Mariupol

Im russisch besetzten Mariupol sind nach ukrainischen Angaben Seuchen ausgebrochen. In der im Süden gelegenen Hafenstadt gebe es einen Cholera- und Ruhrausbruch, sagte Bürgermeister Wadym Bojtschenko, der sich außerhalb der Stadt aufhält. „Der Krieg, der mehr als 20.000 Menschen das Leben gekostet hat, wird mit diesen Infektionsausbrüchen leider die Leben weiterer Tausender Menschen in Mariupol fordern.“ Leichen verwesten in den Straßen. Teile der Wasserversorgung seien verseucht und sanitäre Anlagen zerstört. Bojtschenko rief die Vereinten Nationen und das Rote Kreuz dazu auf, Fluchtkorridore einzurichten, damit Bewohner die durch den Krieg weitgehend zerstörten Stadt verlassen könnten. (rtr)

800.000 Neurussen im Donbass

In den ostukrainischen Separatistengebieten haben laut russischer Nachrichtenagentur Tass in den vergangenen drei Jahren mehr als 800 000 Menschen die russische Staatsbürgerschaft auf vereinfachtem Weg erhalten. Nur knapp ein Prozent der Anträge von Bewohnern der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk sei abgelehnt worden, meldete Tass am Samstag unter Berufung auf das Innenministerium in Moskau. Kremlchef Wladimir Putin hatte im April 2019 ein Dekret erlassen, dem zufolge Ukrainer im Donbass leichter russische Staatsbürger werden können.

Die vielen Neurussen dienen dem Kreml Kritikern zufolge als Instrument, um seinen Einfluss in der Ostukraine auszuweiten. Auch Gebiete, die Russlands Truppen seit Kriegsbeginn Ende Februar dieses Jahres besetzt haben, sollen auf diesem Weg enger an Moskau gebunden werden. So wurde etwa am Samstag in den Regionen Cherson und Saporischschja Angaben der von Russland eingesetzten Verwaltungen zufolge mit dem Verteilen von Pässen begonnen. Auch der russische Rubel soll dort als Zahlungsmittel eingeführt werden. (dpa)

Noruipour: Holodomor als Völkermord anerkennen

Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour spricht sich dafür aus, dass Deutschland die Hungerkatastrophe in der Ukraine vor 90 Jahren, den sogenannten Holodomor, als Völkermord einstuft. Es gehe „um das Leid und den Tod von Millionen Menschen in der Ukraine durch Stalin“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe vom Samstag. „Die Anerkennung dieses grausamen Verbrechens wäre ein wichtiges Signal der Empathie und des Geschichtsbewusstseins in Richtung der Menschen in der Ukraine.“

Nouripour erinnerte an eine Petition an den Bundestag im Jahr 2019, die eine entsprechende Einstufung des Holodomor zum Ziel hatte. „Wir Grüne unterstützen dieses Anliegen“, sagte er. „Wir sollten diesen Prozess jetzt wieder aufgreifen, zumal das Deutsche Reich damals vom gestohlenen Getreide aus der Ukraine profitiert hat.“

Über die Forderung in der Petition wurde letztlich nicht abgestimmt. Die damalige Bundesregierung hatte sich gegen die Anerkennung als Völkermord ausgesprochen mit dem Argument, dass es diesen Passus im Völkerstrafrecht erst seit 1948 gibt. Ereignisse aus der Zeit davor könnten somit völkerrechtlich nicht als Genozid bezeichnet werden.

Der Begriff Holodomor lässt sich übersetzen als „Tötung durch Hunger“. Er wird für eine verheerende Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933 verwendet, die der sowjetische Diktator Joseph Stalin durch die erzwungene Kollektivierung der Landwirtschaft ausgelöst hatte. Damals starben mehrere Millionen Menschen. (afp)

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.