Portrait von Katja Kipping

Foto: Doro Zinn

Streit um das Erbe:Sie macht jetzt einfach

Seit Kurzem ist Katja Kipping Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Die Ex-Linken-Chefin blüht auf. Ihrer Partei geht es schlecht.

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4.6.2022, 18:52  Uhr

Wo ist nur der Raum mit der Giraffe? Katja Kipping nimmt zielstrebig die Treppe in die Lobby des Tierparkhotels, bleibt kurz stehen, wendet sich nach rechts und lugt durch eine halb offene Tür.

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Das Hotel, in dem Kipping herumirrt, ist ein modernisierter Plattenbau in Ostberlin. Es hat 278 Zimmer auf zehn Etagen und etliche Tagungsräume. Gegenüber, gleich hinter einer vierspurigen Straße, liegt der noch vor dem Mauerbau eröffnete Tierpark in einer riesigen Parkanlage.

Während der Coronazeit wurde das Hotel zum Ausbildungshotel. Hier konnten Berliner Azubis, deren Betriebe während des Lockdowns dichtmachten, ihre Ausbildung beenden, finanziert vom Berliner Senat. Die Linke Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat das Projekt eingefädelt. Ihre Nachfolgerin ist seit Dezember Katja Kipping. An einem Montag im Mai macht sie sich ein Bild von Breitenbachs Vermächtnis. Doch vorher wandelt sie auf den Spuren ihrer Vergangenheit.

Hier muss sie sein, die Giraffe. Katja Kipping betritt den Raum „Serengeti“ und klatscht einmal in die Hände. Tatsächlich. Die Wand an der Stirnseite ist mit einem gigantischem Giraffenkopf bemalt. „Die Giraffe hat uns immer so lustig über die Schultern geschaut, wenn wir hier getagt haben“, freut sich Kipping. Als Kipping noch Vorsitzende der Linkspartei war, traf sich der Vorstand hier manchmal zur Klausur. „Nächste Woche sind wir wohl wieder hier, aber diesmal ohne mich“, sagt Kipping. 2021 gab sie den Parteivorsitz der Linken, den sie 9 Jahre gemeinsam mit Bernd Riexinger innehatte, ab.

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Ein dreiviertel Jahr später wurde sie Linke Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. In einer Dreierkoalition mit der SPD und den Grünen.

Nun leitet sie ein Haus mit vier Abteilungen, drei Stabsstellen, fünf nachgeordneten Behörden und 2.300 Mitarbeiter:innen. Sie kümmert sich um Geflüchtete, um Obdachlose, um Azubis, 60 Stunden die Woche. „Es geht mir blendend“, sagt Kipping.

Parteitag

Am 24. Juni wählt die Linke einen neuen Vorsitz. Es gibt vier Favorit:innen.

Janine Wissler

Die amtierende Vorsitzende tritt wieder an. Sie wird zum linken Parteiflügel gezählt.

Heidi Reichinnek

Sie sitzt neu im Bundestag und gilt als Favoritin der Fraktionsspitze.

Martin Schirdewan

Der Europapolitiker ist Wisslers Wunschpartner.

Sören Pellmann

Der Leipziger wird von Wagenknecht unterstützt.

Die Diskrepanz zur Linkspartei könnte damit nicht größer sein. Der geht es schlecht, richtig dreckig. Als Kipping und Riexinger im Februar '21 ihre Posten räumten, hätten laut Umfrage nur noch 7 Prozent der Wäh­le­r:in­nen für die Linke gestimmt. In den Bundestag war die Linke im Herbst dann mit Ach und Seufz eingezogen. Mit 4,9 Prozent – dank dreier Direktmandate.

Drei Landtagswahlen gingen seither krachend verloren. Im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen rutschten die Linken auf das Niveau der Tierschutzpartei. Die bundesweiten Umfragen sehen sie mittlerweile bei 4 Prozent. Wäre der Bundestag ein Tierpark, stünde die Linke inzwischen auf der Roten Liste – vom Aussterben bedroht.

Die Hilfeschreie aus der Partei mehren sich. Es gibt öffentliche Aufrufe und offene Briefe, jetzt klares Profil zu zeigen, geschlossen zu stehen und mit einer Stimme zu sprechen. Aber wie sieht es aus, das klare Profil? Davon gibt es in der Linken ganz unterschiedliche Vorstellungen. Die Fronten in der Partei sind verhärtet, verschiedene Lager werfen sich gegenseitig vor, nicht links genug zu sein, zu linksdogmatisch, zu regierungsfreundlich oder zu oppositionsfixiert, zu kriegstreiberisch oder zu realitätsfern, zu grün oder zu wenig ökologisch.

In der Partei, die Frieden und Solidarität zum Prinzip erklärt, tobt seit Jahren ein Bürgerkrieg. Die einen fordern Rückbesinnung auf die Linke als soziale Protestpartei, die anderen wollen die Linke modernisieren. Besonders tief sind die Schützengräben in der Bundestagsfraktion. Da bekommen neue Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Abgeordneten an ihrem ersten Tag schon mal eine Einweisung, mit welchen Büros der eigenen Fraktion man kooperiert und mit welchen nicht.

Zu gesellschaftlichen Megathemen, ob innen- oder außenpolitisch, findet die Linke schon lange keine klare Sprache mehr. Die Abstimmungen im Bundestag, allein in den vergangenen 12 Monaten, sprechen für sich: Beim Evakuierungseinsatz von Ortskräften aus Afghanistan enthielt sich die Mehrheit der Fraktion, bei der Impfpflicht in Pflegeheimen und Krankenhäusern enthielt man sich, beim Lieferkettengesetz enthielt man sich, zur Frage, ob die Bundesregierung die Ukraine auch mit Waffen unterstützen sollte, stimmte die Linke mit Nein. Wenigstens weiß man noch, wogegen man ist.

Aber das Wofür ist den meisten Wäh­le­r:in­nen inzwischen unklar. Und so trudelt die Linke, mit sich selbst beschäftigt, der eigenen Bedeutungslosigkeit entgegen.

Kippings Fähigkeit, Kompromisse für ihre Partei auszuhandeln und mitzutragen, die viele loben, war mit dafür verantwortlich, dass Großfragen ungeklärt blieben, um die jetzt neu gerungen werden muss. Beim Thema EU etwa war die Linke gelähmt zwischen zwei extremen Positionen: einer Republik Europa – also einem europäischen Superstaat – oder ihrer Zerschlagung. Die Grünen waren da klarer und gewannen bei der Europawahl 2019 dazu, während die Linke verlor.

Ende Juni trifft man sich zum Parteitag in Erfurt. Dort soll ein Neuanfang gelingen – inhaltlich und auch personell. Bereits zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren sucht die Linke nach Nach­fol­ge­r:in­nen für Kipping und Riexinger. Das erst im Februar vergangenen Jahres nach mehreren Anläufen gewählte Spitzenduo trennte sich im April dieses Jahres schon wieder.

Susanne Hennig-Wellsow warf hin, zermürbt von den internen Machtkämpfen und widmet sich nun lieber ihrer Familie. Janine Wissler, angeschlagen durch Sexismusvorwürfe in ihrem Landesverband, denen sie ihren Kri­ti­ke­r:in­nen zufolge nicht konsequent nachgegangen sei, stellt sich zur Wiederwahl.

Seltsam führungslos irrt die Partei nun durch die Zeitenwende, dominiert durch eine geschrumpfte Fraktion, in der einige Moskau-freundliche Hardliner den Ton angeben.

Mancher sehnt sich schon nach den Zeiten zurück, als Kipping und Riexinger noch Parteivorsitzende waren. Auch damals gab es permanent Krach zwischen der Parteiführung und der Fraktionsspitze. „Aber Riexinger und Kipping haben wenigstens die Partei geführt“, seufzt ein Mitglied des Parteivorstandes. Wenn Großereignisse auf die Tagesordnung drängten, hauten die beiden 5- oder 7-Punkte-Papiere im Namen der Linken heraus: zur Willkommenskultur, für gute Arbeit oder zum Linken Klimaschutz, und gaben so die inhaltliche Linie vor.

Machen Sie sich eigentlich keine Sorgen um ihr Vermächtnis, Frau Kipping?

Eingang zu einem Restaurant

Das Tierparkhotel im Osten von Berlin Foto: Doro Zinn

Eigentlich schon, sagt sie, tatsächlich aber habe sie keine Zeit dazu. Sie hat jetzt einen anderen Job, statt 5-Punkte-Pläne zu erarbeiten und Streit zu schlichten, muss sie Vorgänge abzeichnen und Probleme lösen: „Meine gesamte Energie fließt in das, was ich gerade mache.“ Kipping trägt die Hauptverantwortung – nicht mehr für eine Partei mit 60.000 Mitgliedern, sondern für eine Stadt mit fast vier Millionen Einwohnern, in der je­de:r Fünfte als arm gilt, wo 40.000 Menschen kein Obdach haben, in der prekäre Arbeit als Normalarbeitsverhältnis gilt. Für eine Linke Sozialsenatorin kann es eigentlich kein lohnenderes Betätigungsfeld geben.

Als die taz Katja Kipping Anfang Januar zum ersten Interview in ihrer neuen Position trifft, faltet sie ­gerade ein paar Aktenmappen. Kipping hat ihr Büro in dem langgestreckten Backsteinbau im Stadtteil Kreuzberg erst vor Kurzem bezogen. Hinter ihr an der Wand hängt ein Gemälde, das noch eine ihrer Amtsvorgängerinnen aufhängen ließ. Kipping kneift die Augen zusammen. „Finden Sie nicht auch, dass das Bild schief hängt?“ Kaum wahr­nehmbar, aber sie scheint es zu stören.

Kipping spricht über das, was sie in den nächsten 5 Jahren umsetzen will und versteckt sich dabei zuweilen hinter sperrigen Fachbegriffen. Sie will eine „branchenspezifische Ausbildungsabgabe“ einführen – ein Umlagesystem für Betriebe, die nicht ausbilden, an solche, die ausbilden –, „Housing First“ vorantreiben – ein Projekt zur Überwindung der Obdachlosigkeit in Berlin – und den Zuzug Geflüchteter besser managen. „Es gibt Prognosen, dass wir im ersten Quartal des neuen Jahres ein Defizit von über 500 Unterbringungsplätzen haben werden“, sagt sie.

Leicht verschätzt.

Am Donnerstag, den 24. Februar, überfällt Putins Armee die Ukraine, Raketen zerstören Wohnhäuser, Soldaten massakrieren Zivilisten, Millionen Ukrai­ne­r:in­nen flüchten. Berlin wird zum Drehkreuz und Kipping zur Krisenmanagerin. Zehntausende Menschen kommen in den ersten Wochen am Berliner Hauptbahnhof und am Busbahnhof an.

Der Senat kommt zur Sondersitzung zusammen, Krisenstäbe werden neu aufgestellt, der ehemalige Flughafen Tegel zum Ankunftszentrum umgewidmet, wo bis zu 500 Menschen für ein, zwei Nächte untergebracht werden können.„Es gab keinen Vorlauf, keine Blaupause“, sagt Kipping. „Wir mussten einfach handeln.“

Der Kollaps bleibt aus. Bilder von Geflüchteten, die wochenlang vor dem Lageso ausharren, um zu erfahren, wie es weitergeht, die monatelang in Turnhallen campieren, gibt es diesmal nicht. Auch weil die Ukrai­ne­r:in­nen nicht wie einst die syrischen Geflüchteten komplizierte Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern ohne Visum einreisen und sich von Anfang an frei im ganzen Land bewegen dürfen.

Kipping ist ganz zufrieden mit ihrer Bilanz, als sie Ende Mai zum Ankunftszentrum Tegel fährt, um freiwilligen Hel­fe­r:in­nen, die sich um Geflüchtete kümmern, Ehrenamtsurkunden zu überreichen. In einer Baracke, die einst als Autovermietung diente, haben sich etwa 50 Menschen im Halbkreis vor einer Stellwand mit den Namen von Wohlfahrtsverbänden und dem Slogan „Wir helfen Berlin“ versammelt. Vor ihnen steht Kipping und spricht in ein Mikrofon. 238.000 Menschen sind seit Februar aus der Ukraine in Berlin angekommen, 45.000 von ihnen haben Sozialleistungen in Berlin beantragt. „Hinter all diesen Zahlen steckt unglaublich viel Arbeit“, sagt sie.

Besonders beeindruckend sei die Geschwindigkeit gewesen. Sie sei ja selbst erst seit wenigen Monaten in der Verwaltung und habe lernen müssen, wie lange manche Vorgänge dauerten. „Allein so eine Ausschreibung, um eine neue Sekretärin zu gewinnen, das ist ein Projekt für Monate.“ Nun aber musste alles ganz schnell gehen. „Berlin hat es geschafft, dass wir keine Turnhallen aufmachen mussten“, sagt sie. Das verdanke man auch den vielen Freiwilligen. „Also Ihnen. Dafür mein tiefster Respekt“, sagt Kipping, legt eine Hand auf die Brust und verneigt sich. Sie ermuntert die Leute, auch auf Probleme hinzuweisen, „denn wir stehen ja in der Pflicht, immer wieder Dinge zu verbessern“.

Das tun die Ehrenamtlichen gern. Eine Frau mit rasierten Schläfen hat sich bereits während Kippings Rede immer wieder flüsternd zu ihrer Nachbarin gebeugt. Sie gehört zu einer Gruppe von Ehrenamtlichen, die Ukrai­ne­r:in­nen am Hauptbahnhof in Empfang nehmen.

„Wir sind fast wieder am Anfang“, schimpft sie. Wenn Menschen auf die Toilette gehen wollten, bräuchten sie erst einen Chip, dazu müssten sie durch den halben Bahnhof laufen. Wieso der Senat nicht mal mit den privaten Betreibern verhandele, damit die Klos immer zugänglich sind? Und: „Es kommt kaum jemand von der Politik vorbei, der sich erkundigt, was wir brauchen.“ Immerhin gebe es jetzt rund um die Uhr medizinische Betreuung. Ihre Urkunde holt die Frau dennoch ab.

Den Vorwurf, dass niemand sich am Hauptbahnhof blicken lasse, weist Kipping empört zurück. Ihr Büroleiter sei täglich vor Ort, um alles direkt mit den Freiwilligen zu besprechen, sie selbst wiederholt, auch unangemeldet, dort gewesen. Und mit den Toilettenbetreibern habe man permanent nachverhandelt. Aber einfach Geld zu überweisen, das gehe eben nicht. „Es muss immer alles belegbar sein.“

Willkommen in den Mühlen der Realpolitik. Als Vorsitzende der Linkspartei präsentierte Kipping die ganz großen Entwürfe: offene Grenzen für alle, weg mit Hartz IV, eine soziale Mindestsicherung für jeden. Ja, sagt sie, die Spielräume auf Landesebene seien begrenzt. Eigentlich bräuchte es viel mehr Umverteilung, deutlich bessere Sozialleistungen und einen höheren Mindestlohn. Doch statt Reiche zu besteuern, schließt sie gerade Verträge mit der Kassenärztlichen Vereinigung ab, um die Akutbehandlung von Geflüchteten aus der Ukraine zu regeln. Dennoch sei es schön, zu sehen, dass sich Dinge bewegen.

„Was ich hier mache, ist das Gegenteil von Vergeblichkeit, zwar noch nicht in Perfektion, aber immerhin“, sagt sie. Was sie mit Vergeblichkeit meine? „Permanent Vorschläge zu machen, die nie umgesetzt werden.“

In der Linkspartei gehörte Kipping zu jenen, die ausdauernd für ein rot-rot-grünes Regierungsbündnis auf Bundesebene warben. Für den Fall von Sondierungen hatte sie vor der Bundestagswahl schon ein umfangreiches Papier zu ihren Themen Arbeit und Soziales vorbereitet. Das schlechte Ergebnis der Linkspartei machte es jedoch obsolet. Dass sie nun dennoch in einem rot-rot-grünen Bündnis regieren kann, verdankt sie dem Berliner Landesverband. Bei der Landtagswahl, die im Herbst parallel zur Bundestagswahl stattfand, musste die Linke zwar leichte Verluste verkraften. Für eine Dreierkoalition mit SPD und Grünen reichte es im Dezember dennoch.

Gedanken über ihre Zukunft hatte sich Kipping schon länger gemacht. Mit gerade mal 43 Jahren hatte sie in der Linkspartei fast alles erreicht. 1999 zog sie als jüngste Abgeordnete für die damalige PDS in den sächsischen Landtag, 2005 als eine der jüngsten Abgeordneten für die Linkspartei in den Bundestag, mit 34, kurz nach der Geburt ihrer Tochter, wurde sie Parteivorsitzende.

Ihre Gegenkandidatin auf dem Göttinger Parteitag 2012 kam aus Hamburg, doch ihr eigentlicher Konkurrent war jahrelang der Ostdeutsche Dietmar Bartsch. Eigentlich gehören beide zum gleichen Lager der eher pragmatischen Reformer. Doch mit ihrer erfolgreichen Kandidatur hatte Kipping Bartsch den Weg an die Parteispitze verbaut.

Bartsch verzieh Kipping nie.

Der Fraktionsvorsitz wäre für Kipping eigentlich der nächste logische Schritt gewesen. Doch Bartsch, inzwischen selbst Fraktionschef, sorgte dafür, dass Kippings Hoffnungen auf den Posten sich nicht erfüllten. Sein in der Fraktion geschmiedetes Mehrheitsbündnis aus Pragmatikern und orthodoxen Linken, intern als Hufeisen bezeichnet, wählte 2019 die weitgehend unbekannte Amira Mohamed Ali zur Ko-Fraktionsvorsitzenden. An der Konstellation hat sich bis heute nichts geändert.

Als sich der Berliner Kultursenator Klaus Lederer im November 2021 mit Kipping zum Frühstück traf und ihr den Posten als Senatorin anbot, musste sie nicht lange überlegen. Nach 16 Jahren verließ sie den Bundestag.

„Es war Zeit, dass sie ihre viele Facharbeit endlich mal in die Praxis einfließen lässt.“ Johanna Bussemer von der parteinnahen Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet seit Jahren mit Kipping zusammen. Sie sind auch befreundet. Was Bussemer über die Politikerin Katja Kipping erzählt, deckt sich mit dem, was andere berichten: Fleißig und diszipliniert sei Kipping, extrem gut strukturiert und zielstrebig.

„Sie hat schon immer ein ziemliches Tempo vorgelegt“, erinnert sich ihr langjähriger Ko-Vorsitzender Bernd Riexinger an die ersten Monate mit Kipping an der Parteispitze. Kipping war schon als sächsische Landespolitikerin eine, die selbst nach einer Party im Morgengrauen aufstand und zum Bahnhof fuhr, um am anderen Ende der Republik einen Vortrag zum bedingungslosen Grundeinkommen zu halten. Vor einem Häuflein Zuhörer:innen. So erzählt es ein ehemaliger Mitstreiter.

Als Sozialpolitikerin hatte sie sich auch im Bundestag über Parteigrenzen hinweg einen guten Ruf erworben. Martin Pätzold, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus, hat mit Kipping von 2013 bis 2017 im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales gesessen.

Damals waren die Rollen vertauscht – Pätzold gehörte zur Regierungsfraktion, Kipping zur Opposition. Dennoch habe man sachlich und auch auf menschlicher Ebene gut zusammengearbeitet, erzählt Pätzold. „Ich teile ihre Sichtweise zwar nicht, habe aber persönlich Respekt vor ihrem Engagement.“

Nur in der Linkspartei wollten manche das partout anders sehen. Im parteiinternen Streit zwischen der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und der Parteivorsitzenden Katja Kipping etikettierten die Anhängerinnen Wagenknechts Kipping als Lifestyle-Linke, die verantwortlich dafür sei, dass sich die Linke angeblich nicht mehr um soziale Themen kümmere. Der Cicero bezeichnete Kipping noch im Dezember als „Exponentin einer Strömung, die auf postmoderne Orientierung der Linken setze, mit Gender- und Lifestyle­themen.“

Hinter der personalisierten Auseinandersetzung zwischen zwei selbstbewussten Frauen steckte in Wirklichkeit ein knallharter Richtungsstreit. Wagenknecht wirbt für ein „linkskonservatives Programm“, für eine Linke, die sich auf soziale Fragen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen konzentriert. Eine Art Retro-Linke also, die sich der von der Ampelregierung verbreiteten Modernisierungseuphorie entgegenstemmt. Die EU ist Wagenknecht suspekt, ebenso wie nach Europa strebende Migrant:innen.

Ein Ansatz, den Kipping für brandgefährlich hält. Gemeinsam mit Riexinger arbeitete sie als Parteivorsitzende daran, die Ex-PDS und Anti-Hartz-IV-Partei ins 21. Jahrhundert zu hieven. Nur „als ‚sozialrebellischer Arm‘ eines Green New Deal“ habe die Linke eine Chance, heißt es in einem von Kipping mitverfassten Aufsatz vom Herbst.

Dass dieser Weg der erfolgversprechendere sein könnte, deutet sich bei der Mitgliedschaft an, wo in den vergangenen 10 Jahren ein Generationenwechsel stattfand. Fast die Hälfte der 60.000 Mitglieder starb, jüngere füllten die Reihen, vor allem in den westlichen Bundesländern und den Großstädten. Ende des Jahres waren 30 Prozent der Linken-Mitglieder unter 30 Jahre alt. Für ein Zurück-in-die-90er-Programm lassen sie sich nicht begeistern.

Doch auch mit dem Abtritt der beiden Antagonistinnen Wagenknecht und Kipping als Partei- und Fraktions­chefinnen geht der Kampf um die Diskurshoheit in der Linken weiter. In einem in dieser Woche veröffentlichten Aufruf für eine Populäre Linke, den auch Wagenknecht unterzeichnete, heißt es, man dürfe sich nicht auf bestimmte Milieus verengen, müsse auch Menschen erreichen, für die Arbeit und Familie wichtiger seien als politischer Aktivismus.

In die theoretischen Kämpfe ihrer Partei mischt sich Kipping nicht mehr ein. Sie muss sich jetzt um praktische Dinge kümmern. Etwa die Frage, ob das Ausbildungshotel am Tierpark nicht auch ein Modell sein könnte für die von ihr favorisierte Ausbildungsabgabe, die der CDUler Pätzold „Zwangsumlage“ nennt.

Kipping wird nicht zum Parteitag fahren

Die Direktorin des Hotel, eine kleine, drahtige Frau im Jeanskleid, führt Kipping erst in die Lehrküche, dann in den Schulungsraum. Kipping unterhält sich mit den Ausbildern und zwei Azubis und probiert ein Rote-Beete-Häppchen. „Was erwarten Sie von der Politik?“, fragt sie und macht sich auf einem Schreibblock Notizen.

„Das hier ist gelebte Politik, die Jugendlichen sehen doch, dass die Politik mal anpackt und hilft“, sagt der Ausbildungsleiter und schaut die beiden Azubis, zwei Jungs im Teenageralter, auffordernd an. Die nicken. Als ihre Restaurants ihnen kündigten, fungierte das Tierparkhotel als Notlösung. Inzwischen stellen die Betriebe zwar wieder ein, aber sie wollen die Ausbildung trotzdem hier beenden.

„Ist viel besser als den ganzen Tag Burger braten“, meint der eine.

Ob das Hotel die Auswirkungen des Ukrainekriegs zu spüren bekomme, will Kipping wissen. „Aber hallo, wir haben hier extreme Preiserhöhungen, dit is nicht mehr lustig“, meint die Direktorin. Man wisse gerade nicht, welche Herausforderung die größere sei – das fehlende Personal oder die steigenden Preise. Sie verabschiedet sich mit festem Händedruck und blickt zu Kipping, die noch im Gespräch ist. „Die Frau Kipping, die ist schon eine gestandene Frau. Die soll mal in ihrer Partei aufräumen. Tut einem ja in der Seele weh, was die Linke da treibt.“

Aber darum müssen sich nun andere kümmern. Kipping wird auch nicht zum Parteitag fahren. Sie werde ihn über einen Online-Stream aus der Ferne verfolgen. Und wie sieht sie die Zukunft ihrer Partei? Kipping holt Luft. Dann sagt sie leise auf Russisch: „Nadeshda umirajet posledni.“ Das heißt: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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