Marx und der Krieg: Kämpfen in Ketten

Das Prinzip des Handels beförderte weltweit Freiheit, Gleichheit und Frieden. Wäre da nicht die kapitalistische Arbeitslogik.

Karl Marx schaut sich kämpfende Panzer im Fernsehen an

Illustration: Katja Gendikova

Es sollte beunruhigen, wie leichtfertig gegenwärtig das Versprechen „Wandel durch Handel“ verworfen wird. Mit dem Prinzip Handel war schließlich einmal aller Glaube an die Moderne, an Fortschritt und Aufklärung verbunden. „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt“, schrieb Immanuel Kant in seinem Traktat „Zum ewigen Frieden“. Krieg repräsentiert für ihn die Kontinuität mit der Barbarei der Vorzeit.

Zur Erinnerung: Von der Neolithischen Revolution vor etwa 10.000 Jahren bis zur Neuzeit galt Krieg als ehrenwerte Beschäftigung und war eher die Regel als die Ausnahme. Reich war in der alten Welt derjenige, dem viel fruchtbares Land und die dazugehörige Anzahl an Sklaven oder Leibeigenen gehörten. Weil die Produktivität der Sklavenarbeit in der gegebenen Ordnung kaum variabel war, konnte nur wohlhabender werden, wer Land eroberte und fremde Völker versklavte. Erst mit der sich in den Städten ausbreitenden bürgerlichen Gesellschaft setzte sich ein neues, friedfertiges Prinzip in der Welt durch: Reichtum durch rationale Teilung der Arbeit zwischen freiwillig kooperierenden Bürgern. In Folge stieg die Produktivität unabhängig vom Besitz fruchtbarer Böden. Im späten 16. Jahrhundert war das kleine, auf Handel und Manufakturwesen beruhende Holland der reichste Staat der Welt, danach das die Handelsrouten der Weltmeere beherrschende England. Was der vormoderne Mensch nur durch Krieg und auf Kosten anderer erreichen konnte, bekommt der moderne Mensch nur in Arbeitsteilung mit der Weltgesellschaft, durch Handel und – so zumindest die liberale Idee – zugunsten aller.

Während Kant sich mit seinem Zeitgenossen Adam Smith darin einig war, dass ewiger Frieden durch eine Vertiefung des Prinzips der freien Arbeit realisierbar wäre, bemerkte einige Jahrzehnte nach ihm Karl Marx, dass genau dieses Prinzip selbstwidersprüchlich geworden war und statt ewigem Frieden immer neue Konflikte wahrscheinlich und langfristig sogar unvermeidbar macht. Seine Forderung nach „Rücksichtslose(r) Kritik alles Bestehenden“ wurde im Westen weitestgehend verdrängt und im ehemaligen Ostblock zu einer Rechtfertigungsideologie verfälscht. Für Marx hing von der Klärung des Selbstwiderspruchs der Arbeit ab, ob die Versprechen der Moderne eingelöst würden oder aller zivilisatorischer Fortschritt auch den Schritt in eine neue Form von Barbarei bedeuten würde.

Konservative Denker hingegen bleiben bis heute eine wirkliche Erklärung dafür schuldig, warum das moderne Prinzip Handel nie das vormoderne Prinzip Krieg verdrängt hat. Sie neigen zu pessimistischen Feststellungen: Die menschliche Natur sei zu egoistisch, Nationalismus stärker als die kosmopolitische Kooperation in Adam Smiths „handelstreibender Gesellschaft“.

Worin besteht jedoch andererseits der von Marx bemerkte Selbstwiderspruch, der immer neue Kriege bedingt? Aufklärer wie Kant und Adam Smith gingen vor der Industriellen Revolution davon aus, dass das Wachstum des Kapitals zu einer größeren Nachfrage nach Arbeit führt, da diese, neben zu vernachlässigenden Werkzeugen und kleinen Maschinen, der einzige Produktionsfaktor war, in den Kapitalisten im 18. Jahrhundert investieren konnten. Sie gingen daher von einer harmonischen Aufwärtsspirale aus: Mit der Größe des Kapitals sollten die Löhne steigen, „Wandel durch Handel“ – hier im marxistischen Zusammenhang gebraucht – sollte den „Weltbürgerlichen Zustand“ einleiten. In diesem Sinn befasst sich Adam Smiths politische Ökonomie ebenso wie Marx’ Kritik derselben nicht mit Wirtschaft im engen Sinn, sondern mit allen sozialen Beziehungen, die in der universellen Tauschgesellschaft erstmals eine Totalität, ein voneinander abhängiges Ganzes, bilden.

Diese Totalität signalisierte schon aus Sicht der Aufklärung nicht weniger als eine fundamentale Umwandlung der bisherigen menschlichen Natur. Statt „in sich“ zu leben, den eigenen Instinkten nach, wie der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau bemerkte, lebt der moderne Mensch „außer sich“, muss seine natürlichen Reflexe und Instinkte überwinden, um auf sozial akzeptierte Weise und in effizienter Kooperation seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wie schwierig die Überwindung der ersten fast noch tierischen Natur des Menschen gewesen sein muss, belegt noch heute jede Kindererziehung. Kant bemerkte diese Veränderbarkeit auch in der Geschichte der Menschheit vom „Edlen Wilden“ bis hin zum zivilisierten Menschen, der sich durch das Mittel der Vergesellschaftung eine zweite Natur schuf, die er durch die Art der gesellschaftlichen Einrichtung fortlaufend entwickelt.

So bedingt die moderne „handelstreibende Gesellschaft“ objektiv, dass wir uns subjektiv zumindest prinzipiell als freie und gleiche Vertragspartner anerkennen, wohingegen die verschiedenen Völker, Kasten und Stände der Vormoderne sich eher wie unterschiedliche Arten einer Gattung entgegengetreten sind. Eine Kritik an Rassismus und Sexismus beispielsweise bemüht – unabhängig davon, ob das den Beteiligten bewusst ist – das ureigene liberale Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft vom gerechten Tausch mit gleichen Rechten: das „Sollen“ wird gegen das „Sein“ dieser Gesellschaft mobilisiert, wie Kant sagen würde. Zuvor wäre dergleichen Kritik undenkbar gewesen, da hier die Ungleichheit der Menschen, etwa mit der Unterscheidung zwischen jenen mit blauem und rotem Blut oder zwischen den Barbaren und der eigenen Gruppe, grundlegend war.

Nun aber wurden in der Industriellen Revolution Maschinen, Technik und Wissenschaft – das „allgemeine gesellschaftliche Wissen“ nach Marx –, statt rationaler Teilung der Arbeit alleine, dazu verwendet, die Produktivität zu steigern. Dadurch aber wird infolge jeder technischen Neuerung weniger menschliche Arbeit benötigt, ihr Wert reduziert. Was Arbeit erleichtern sollte, untergräbt gleichzeitig das Fundament einer Gesellschaft, die auf ihr beruht – die Gesellschaft der Arbeit gerät in einen Selbstwiderspruch. Das Leben der übergroßen Mehrheit wird unsicher, weil es davon abhängt, ob ihre Arbeit Wert hat. Jeder Fortschritt bedeutet zugleich neue Unsicherheit. Wie Max Horkheimer einmal ironisch bemerkte, wird „anstatt der Arbeit der Arbeiter überflüssig“.

Da die industrielle Produktion so eine neuartige permanente Klasse von Arbeitslosen schuf, hat das Kapital die Möglichkeit, die Not der auf Arbeit Angewiesenen zur Zahlung niedriger Löhne zu nutzen. Niedrige Löhne wiederum reduzieren den Markt für Waren, also muss die Produktion weiter rationalisiert werden. Neue Maschinen und Technologien werden eingesetzt und der Lohn in Folge weiter gedrückt. Währenddessen schaffen neue Produktionstechnologien neue Arbeitsformen, die die Nachfrage nach Arbeit und so relativ ihren Preis erhöht. Neue, besser gestellte Arbeiterschichten entstehen – bis auch sie im nächsten Zyklus absteigen.

Der periodisch wiederkehrende Wertverfall der Arbeitskraft macht es jedoch notwendig, einen Teil der überflüssigen Arbeiter abzuwickeln. Um nicht unter die Räder zu geraten, bilden sich national wie international innerhalb „der“ Arbeiterklasse Gruppenaffinitäten, die miteinander konkurrieren: In- gegen Ausländer, gut gegen schlecht Bezahlte, Ethnien, Religionsgemeinschaften und Nationalitäten gegeneinander. Die verschiedenen Teile der Arbeiterklasse konkurrieren nicht um zusätzlichen Wohlstand, sondern gegen den Abstieg. Diese bittere Konkurrenz führt zu Krieg, obwohl in einer weltweiten arbeitsteiligen Gesellschaft alle auch auf gegenseitige Kooperation angewiesen sind. In dem durch den Selbstwiderspruch der Arbeit angetriebenen Konflikt innerhalb der Arbeiterklasse steckt für Marx alles Konfliktpotenzial einer kapitalistischen Gesellschaft – vom Streik bis hin zu Krieg und Völkermord.

Statt kosmopolitisch-bürgerlicher Kooperation tendiert die Gesellschaft inmitten aller Modernität in Richtung vormodernen Tribalismus. Unter kapitalistischen Vorzeichen stellt sich die Frage, ob die „Überflüssigen“ durch Alimente, Vereinsamung, Sozialarbeit, Drogen und Alkohol friedlich eingehen oder die ganze Gesellschaft mit sich reißen, wie historisch im Nationalsozialismus oder in Bürgerkriegen? Die andere Option der Herrschenden besteht darin, das Chaos in Kriegen nach außen zu exportieren und ihre eigene geopolitische Konkurrenz zu verheizen.

Nicht jedoch Konkurrenz per se oder die der Kapitalisten untereinander sind nach Marx die primäre Ursache für Krieg, sondern die Unfreiheit von Verhältnissen, die dazu zwingen, in Sisyphusarbeit immer weiter zu expandieren, um dem Wertverfall der Arbeitskraft entgegenzuarbeiten. Marx hielt es deshalb für notwendig, „die Proletarier aller Länder“ politisch zu vereinigen. In letzter Konsequenz war für ihn dafür eine weltweit revolutionäre Neuorganisation der Gesellschaft erforderlich, die die internationale Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse beseitigen würde. In Abwesenheit einer Vereinigung gehen Marxens Proletarier allerdings mit ihren „Ketten“ aufeinander los. Der Klassenkampf im internatio­nalen Sinn von Marx hat sich in den der Arbeiter untereinander verwandelt, spätestens seitdem der Marxismus politisch tot ist.

Doch trotz des politischen Scheiterns des Marxismus im frühen 20. Jahrhundert und trotz aller Illusionen, die die letzten Jahrzehnte stabiler Instabilität mit sich gebracht haben, bleibt die von Marx aufgeworfene Problematik ungelöst.

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Jan Schroeder beschäftigt sich mit kritischen Denkern und Ideen in der Tradition der Aufklärung und des Marxismus. Er hat Philosophie und Soziologie in Frankfurt und Madrid studiert und ist Redakteur der taz.

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