Klimawandel und Energiepolitik: Vernagelt fürs Offensichtliche

Warum finden wir manchmal den Senf nicht, obwohl er direkt vor uns steht? Das Phänomen erklärt einiges – und gibt Hoffnung.

Close-Up von aufgereihten Zuckerstreuer, Ketchup Flaschen und Senfglas

Wo war noch gleich der Senf? Foto: Colin Hutton/plainpicture

Wo ist der verdammte Senf? Ich starre in den offenen Kühlschrank und kann es nicht fassen. Gestern war das Döschen mit „Bautz´ner Senf mittelscharf“ noch da. Jetzt finde ich es nicht beim Naturjoghurt, nicht hinter dem Glas mit den Gurken, die wie grüne Goldfische aussehen, und auch nicht bei den Gewürzsaucen von zweifelhafter Herkunft.

Die Zeit drängt, der Ofen bollert schon und die Quiche muss in die Hitze. Ich räume, suche und fluche, finde aber nichts. Schließlich gebe ich auf und nehme ein neues Senfglas aus dem Vorratsschrank. Am nächsten Tag grinst mir der gesuchte Bautz´ner Senf aus dem Kühlschrank entgegen. Gleich vorn, knapp über Augenhöhe.

Vielleicht ist es das Alter. Vielleicht aber auch die Erkenntnis, dass nichts so schwierig zu sehen ist wie das Offensichtliche. Was direkt vor unserer Nase stattfindet, nehmen wir nicht wahr. Wir haben uns so daran gewöhnt, dass es das Gehirn als Hintergrund einordnet. Wie sonst kann es sein, dass die EU nun plötzlich merkt, dass sie für ihren Green Deal aber mal ganz hurtig doppelt und dreifach so viel Windkraftwerke und Solarparks bauen muss?

Dass wir uns auf einmal daran erinnern, dass früher viel mehr Mücken, Fliegen und Wespen auf unserer Haut und unserem Pflaumenkuchen saßen? Dass diese mit SUV-Panzern vollgeparkten Seitenstraßen ziemlich fies sind, wenn man mit Kindern über die Straße will? Oder dass Wladimir Putin gar nicht der nette deutschsprachige Gasmann mit Goethe-Zitat ist, sondern ein brutaler Kriegsverbrecher?

Wer Edgar Allen Poes Geschichte „Der entwendete Brief“ (wo die Polizei eine Wohnung auf den Kopf stellt, während der gesuchte Brief offen auf dem Küchentisch liegt) oder meinen Kühlschrank kennt, den kann das nicht verwundern. Interessanter ist aber die Frage, was wir derzeit nicht sehen, obwohl und weil es gerade vor unseren Augen stattfindet. Die Futur-2-Frage lautet: „Warum werde ich das nicht bemerkt haben?“ Zum Beispiel: Dass überall der Wald verdorrt. Dass es im Mai in Berlin Tage mit 30 Grad-Hitze gibt. Dass die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels nur noch so theoretisch möglich ist wie ein deutscher Sieg beim Eurovision Song Contest.

Falls es Sie tröstet: Wir sind nicht allein darin, für das Offensichtliche vernagelt zu sein. Auch die FDP wird in sechs Monaten lautstark ein Tempolimit von 95 km/h auf der Autobahn fordern und behaupten, das sei immer schon vernünftig gewesen. So wie die Liberalen jetzt den Emissionshandel lieben, den sie noch vor ein paar Jahren bis aufs Messer bekämpft haben.

Polen wird sich mit Grausen von der Kohle abwenden, weil die einfach viel zu teuer ist, auch Frankreich wird beim Atom die Grundrechenarten entdecken und „putain, quelle folie!“ rufen. Die Auto-Konzerne werden in drei Jahren behaupten, sie hätten nur widerwillig und auf politischen Druck hundert Jahre lang Verbrennungsmotoren gebaut. Tönnies wird seine Schlachtfabriken zu Mahnmalen des karnivoren Zeitalters machen und am Gruseltourismus plus Sojawurst sein Geld verdienen.

Und alle werden wir sagen: Am Baggersee in der Uckermark kann man sowieso viel besser chillen als auf den Seychellen. Weil sich keiner mehr über die Palmen in Klein-Knöckeritz wundert oder über das Schnorcheln zwischen Nacktarsch und Buntbarsch im Weiher von Wuselow. Es war ja schon lange klar, dass die Tropen zu uns kommen. Wir wollten es bloß nicht wahrhaben.

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Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).

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