Linke Allianz gegen EU: Europa oder nichts

In Frankreich wird die Vertiefung der EU nicht nur von Rechtsradikalen, sondern von linken Populisten, Sozialdemokraten und sogar Grünen zur Disposition gestellt. Das kann ja wohl nicht wahr sein.

Linkspopulist Jean-Luc Melenchon bei der Versammlung der Nouvelle Union populaire ecologique et sociale (NUPES) Foto: Reuters

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 17.05.22 | Die Klimaveränderungen, die Corona-Pandemie und der Angriffskrieg der Russen in der Ukraine bestimmen als sich gegenseitig verstärkende Existenzkrisen weltweit die politischen Agenden. Nationale Alleingänge und die rücksichtslose Priorisierung nationaler Interessen dagegen beschädigen die Chancen, zukunftgestaltend mit diesen Krisen umzugehen. Alle drei Krisen sind nur in funktionierenden supranationalen Allianzen zu bearbeiten.

Die EU, zusammengehalten von den Verträgen von Maastricht und Lissabon, ist zu einem Beispiel sich freiwillig verfestigender transnationaler Zusammenarbeit geworden. Die EU ist auf dem Weg, eine „Europäische Souveränität“ zu entwickeln, die in die Gründung eines europäischen Bundesstaates münden soll und münden wird, wie auch immer das im Detail dann aussieht.

Die Einführung des Euro 2002, das Eindämmen der Finanzkrise 2008, die für alle Mitgliedsländer verbindlichen Schuldenregeln, die Schengen-Regeln, der Rechtsstaatsmechanismus, mit dem EU-Mitgliedern bei Verletzung der gemeinsamen rechtstaatlichen Normen die Mittel gekürzt werden können, das in zentralen Fragen gemeinsame Corona-Management, der Milliardenfonds für die Klimapolitik und die militärische und zivile Hilfe für die Ukraine: Das alles sind heute schon Teile einer souveränen europäischen Regierungs-Politik, wenn auch in schwierigen Abstimmungsprozeduren. Allerdings werden diese Prozeduren gleichzeitig auch von einigen Mitgliedsstaaten dazu genutzt, die finanziellen Vorteile der EU in Anspruch zu nehmen, aber zugleich das weitere Zusammenwachsen auszubremsen oder gar die EU gleich grundsätzlich in Frage zu stellen. Mit dem Brexit, Orbans illiberaler Demokratie in Ungarn und dem Polen der PIS wurden und werden diese Tendenzen fortlaufend verstärkt.

Macron will sich für eine europäische Verfassung einsetzen

Abgeleitet aus den aktuellen Zwängen zu ihrer Eindämmung legitimieren die drei genannten Großkrisen nächste Schritte zur Verfestigung einer europäischen Souveränität. Dafür braucht die EU eine EU-Verfassung. Eine erste EU-Verfassung, geplant für 2006, hatte ein europäischer Konvent 2003 vorgelegt und war von allen Staats- und Regierungschefs 2004 unterzeichnet worden. Ihre Ratifizierung scheiterte an ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Anstelle der Verfassung wurde 2009 der Lissabon-Vertrag in Kraft gesetzt, der die EU seither regelt.

Ein neuer Versuch, eine EU-Verfassung zu beschließen, wird gerade auf den Weg gebracht. Die „Konferenz zur Zukunft Europas“, 800 zufällig ausgewählte europäische Bürger, haben letzte Woche ihre 49 Vorschläge zur Reform der EU an die EU-Kommission übergeben. Das Europa-Parlament hat diese Vorschläge nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern die Kommission und damit alle EU-Regierungen verpflichtet, sich mit diesen Vorschlägen zu befassen, sie in einen Verfassungskonvent einzubringen und sie zur Grundlage von Verfassungsberatungen zu machen. Ein verblüffend erfolgreiches basisdemokratisches Experiment. Offensichtlich gibt es eine politisch unterschätzte Mehrheit der Bürger in Europa, die den Willen hat, die europäische Kleinstaaterei zu beenden.

Die Zukunftskonferenz verlangt die Errichtung eines „föderal organisierten Bundesstaates Europa“. Die Verpflichtung zur Einstimmigkeit in der Außen-, Steuer- und Haushaltspolitik soll abgeschafft werden. Das EU-Parlament soll ein ordentliches Parlament mit eigenen Initiativrechten für Europa-Gesetze und mit umfassenden Kontroll- und Wahlrechten werden. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hat bereits angekündigt, dass die Kommission den Weg zur Einsetzung eines Verfassungskonventes freimachen will.

Frankreichs gerade wieder gewählter Präsident Macron hat noch bis Ende Juni die Ratspräsidentschaft inne. Er will dafür sorgen, dass in dieser Zeit alle notwendigen Beschlüsse zur Einberufung eines Verfassungskonvents beschlossen werden.

Rechte und linke Parteien wenden sich gegen die EU

Macron hat die Zukunft der EU und Europas ein weiteres Mal zu seinem zentralen Thema im bevorstehenden Wahlkampf zur Nationalversammlung in Frankreich erklärt. Er will die Wahl mit der pro-europäischen Forderung „Ensemble“ („Zusammen“) gewinnen. Allerdings hat er mächtige Gegner. Die Rechtspopulistin Marie Le Pen hat erklärt, Macron wolle die Souveränität Frankreichs an Brüssel verkaufen. Wäre sie Präsidentin geworden, dann würde die Blaue Fahne Europas mit den goldenen 26 Sternen vor allen französischen Regierungsgebäuden verschwinden. Und Jean-Luc Melenchon, der Linkspopulist, hat mit der von ihm speziell für diese Wahl gegründeten „Volksunion“ aus Linkspartei, Grünen, Kommunisten und Sozialisten zum „Ungehorsam Frankreichs gegenüber der EU“ aufgerufen. Seinen linkspopulistischen Kurs begründet er mit einer scharfen nationalistischen und antideutschen Polemik. Die Deutschen würden die EU nur für die Durchsetzung ihrer nationalen Interessen nutzen. Die Arbeiter aller anderen europäischen Nationen sollten die deutschen Interessen zahlen.

In Frankreich wird also die Zukunft und Vertiefung der EU von Rechtsradikalen auf der einen, linken Populisten, Kommunisten sowie Sozialdemokraten und Grünen auf der anderen Seite zur Disposition gestellt. Dass Sozialdemokraten ihre urdemokratischen Prinzipien gelegentlich verraten haben und heute einen vergleichbaren Verrat mit sozialpolitischem, strukturkonservativem Gerechtigkeits-Populismus begründen, ist nicht neu. Aber dass die französischen Grünen mit offenen Demokratiefeinden gemeinsame Sache machen, gefährdet die Hoffnung von immer mehr Bürgern in ganz Europa in die Fähigkeit und Bereitschaft dieser Partei, den ökologischen Wandel demokratisch und im europäischen Konsens zu gestalten und umzusetzen.

Damit kommt es für die deutsche Regierungskoalition – neben allem anderen – auch noch zu einer europapolitischen Nagelprobe. Nachdem die Merkel-Koalition aus Union und SPD Macrons Vorschläge in Brüssel über viele Jahre systematisch hintertrieben hat, hätte die Ampel jetzt die Gelegenheit, den Europäer Macron durch eine gemeinsame EU-Verfassungsoffensive in seinem Wahlkampf zu unterstützen und so die EU unumkehrbar auf den Weg in den europäischen Bundesstaat zu führen. Treten die europäischen Länder indes wieder als Nationalstaaten auf, laufen sie Gefahr, im Machtkampf zwischen Russland, China, den illiberalen Demokratien und den USA zerrieben zu werden.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.

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