Wenn die Klasse entscheidet: Nach den Regeln der Kunst

Wer als Krea­ti­ve:r erfolgreich sein will, muss Kunst verstehen – und dafür ihre Codes beigebracht bekommen. Doch das ist eine Frage der Klasse.

Menschen stehen vor Bildern in einem Museum

Für die einen die schönste Kunst, für die andere unbedeutend Foto: Rupert Oberhäuser/imago

In unserer Wirtschaft hingen zwei Bilder. Ein Stammgast war davon überzeugt, dass sie viel wert sind, und redete so lange auf meine Eltern ein, bis diese schließlich nach München fuhren, um die Gemälde begutachten zu lassen. Der Sachverständige schätzte die Herbstlandschaften damals auf 160 und 200 DM. Meine Eltern verkauften die Bilder nicht und hängten sie zurück an ihren Platz über dem Stammtisch.

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„Werke sind kodierte Botschaften“, schrieb Bourdieu in „Wie die Kultur zum Bauern kommt“. Er meint damit, dass diejenigen, die glauben, sie lesen zu können, weil sie so klug und feinsinnig sind, vergessen, dass ihnen das Lesen der Codes nach und nach beigebracht wurde. In ihrer Familie, von ihrem Umfeld, in ihrem Milieu. Ohne, dass es ihnen selbst bewusst sein müsste.

Vor vielen Jahren, während meines Studiums in München, ging ich jeden zweiten Tag in die Neue Pinakothek. Meine Arbeit bestand darin, hinter einer Theke zu sitzen und Führungen anzubieten, auf tragbaren Geräten. Man tippte eine Nummer in den Audio-Guide und dann erzählte Dr. Soundso etwas zu dem Kunstwerk. Ich fasste damals den Entschluss, mir alles anzuhören, die Sammlung komplett durchzuarbeiten, aber schon nach zwei Bildern brach ich immer ein. Wenn ich heute vor einem Bild stehe, das viel wert ist, passiert meistens nichts. Ich könnte genauso gut eine Wand anstarren. Das wäre auf eine Art sogar angenehmer, weil Wände keine Scham erzeugen. Mir fehlt das kulturelle Wissen, die Bildung, der Zugang zur sogenannten Hochkultur.

Der Kunstbetrieb bedeutet für viele Künst­le­r:in­nen und Mitarbeiter:innen: prekäre Arbeit, schlechte Honorare, unsichere Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig ist es für Künstler:innen, Au­to­r:in­nen und Theaterschaffende unabdingbar, „guten Geschmack“ zu beweisen, über ausreichend kulturelles Kapital zu verfügen. Man muss die Regeln der Kunst beherrschen, Netzwerke pflegen, sich auf dem Feld der Kultur bewegen können. Wer dies nicht tut, bleibt oft „draußen“ und landet seltener auf einer Preisliste oder in einer Galerie, egal wie gut ein Bild gemalt oder ein Text geschrieben sein mag.

Viele Künst­le­r:in­nen kommen aus akademischen, wohlhabenden Verhältnissen. Anders könnten sie sich den prekären Status gar nicht leisten. Oder sie arbeiten „nebenher“ etwas anderes. Erst kürzlich war hier in der taz von Au­to­r:in­nen zu lesen, die sich allein mit dem Schrei­ben nicht ihren Lebensunterhalt verdienen können. Andere kommen gar nicht so weit, sie versuchen es erst gar nicht. Sie eliminieren sich vorher selbst, weil sie Manet und Monet nicht unterscheiden können, weil die Welt der Kunst nicht ihre Welt ist.

Eine andere Kultur

Immer noch sind es die Kinder aus den wohlsituierten Milieus, die früh zum Pinsel oder zum Stift greifen und darin bestärkt werden. Meine Familie arbeitete in der Gastronomie. 16-Stunden-Tage, keine Freizeit. Ich wurde nicht zum Klavierunterricht geschickt, sondern zum Lottoschein abgeben. Unsere Kultur (Auswahl): Liebesromane von Konsalik, Schlagerplatten von Howard Carpendale, Poster von der Popband Roxette, eine Videosammlung mit Heimatfilmen (ein Regal voll mit selbst beschrifteten Kassetten).

„Die Entzifferung der Zeichen ist um so delikater, als sie von den Codes des Herkunftsmilieus gestört wird“, schreibt die französische Philosophin Chantal Jaquet in ihrem Buch „Zwischen den Klassen“. Der Klassenübergänger befinde sich zwischen zwei Polen, schwanke ständig zwischen Anpassung und Enttarnung. Mein eigener Klassenübergang ging einher mit immer schärferen Grenzziehungen „nach unten“, die sich vor allem gegen mich selbst richteten. Ich wertete alles ab – Fernsehen, Kommerz, Mainstream.

Pausenlos lief ich ins Theater, ins Museum, stand mit der Hand am Kinn in irgendwelchen Kathedralen – in einer Art Überkompensation. Wie sehr ich die Geschmacksurteile übernommen hatte, ist mir erst im Laufe der Jahre bewusst geworden. Heute frage ich mich, ob es möglich ist, von diesen Dingen zu sprechen, ohne den Glauben zu vermitteln, dass einige höherwertiger und geschmackvoller sind als andere.

Es gibt sie doch, die Auf­stei­ge­r:in­nen in der Literatur, im Kulturbetrieb, die Stimmen „von unten“, sagen manche. So als wären zwei von zehn eine gute Quote. Und jene, die einen Platz ergattert haben, „nehmen die Kultur zu ernst“, so Bourdieu in „Die feinen Unterschiede“, ihnen fehle das Spielerische, das natürlich Vertraute und Lässige, das den bürgerlichen Umgang auszeichnet. Sie hadern mit ihrer Rolle, ihrer Zerrissenheit, mit ihrem gespaltenen Habitus, der konkurrierende Antwortvorräte des Sprechens, Verhaltens und Auftretens für die gleiche Situation bereithält. Sie fragen sich ständig, ob ihr Leben mit ihnen selbst übereinstimmt. Wenn sie keinen Erfolg haben, kehren sie viel schneller zu ihrem alten Ich zurück. Etwas in mir ist davon überzeugt, dass ich das Arbeiten in der Gastronomie, trotz meines Studiums und des Schreibens, immer noch am besten kann.

Die Regeln der Kunst

Kürzlich traf ich einen Bekannten, der in einer Galerie arbeitet. Wir unterhielten uns über „class & art“. So lautete der Betreff meiner an ihn gerichteten E-Mail. (Seine Antwort: „such an important topic!“) Der Bekannte erzählte mir, dass er diejenigen, die selten in einer Galerie sind, daran erkennen würde, dass sie verwundert seien, nichts für den Besuch bezahlen zu müssen. Ich fragte ihn, ob es überall auf der Welt üblich sei, dass Galerien nichts kosten, und bemerkte erst hinterher, mich dadurch selbst in das Muster begeben zu haben. Ich bin froh, nicht nach Audio-Guides gefragt zu haben.

Die Regeln der Kunst beinhalten Antworten auf die Fragen, was Kunst ist, was ihre jeweils adäquate Form darstellt und wer sie wie vertreten darf. Sie werden aber nicht rein ästhetisch oder qualitativ ausgehandelt, sondern über soziale Praktiken und Institutionen. Bildung, Lebensstil und Habitus differenzieren das Feld der Kunst, sie kennzeichnen jemanden als Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe.

Die Regeln der Kunst führen zu Anerkennung beziehungsweise Nichtanerkennung. Sie ermöglichen die Auszeichnung, aber auch die Abwertung, den Ausschluss. Die Mythen um Begabung und Talent, die der Kunst anhaften, blenden diese Bedingungen aus und verstellen damit eine Perspektive auf soziale Ungleichheit in diesem Feld.

Verschiedene Aspekte von Klasse greifen dabei ineinander: Distinktion durch Kultur und die soziale Schließung in der Kultur. Dazu zählen auch klassistische Darstellungen von allen „ohne Kultur“ (Film, Reality TV, Boulevard etc.). Man setzt sich durch Wissen zur Kunst von anderen ab, benötigt dieses, um selbst Künst­le­r:in zu sein, und urteilt dann oft über alle, die es nicht haben. Dabei ist auch noch die subjektivste Geschmacksempfindung Ausdruck der eigenen sozialen Position.

Solange man immer noch „Klassizismus“ angezeigt bekommt, wenn man nach „Klassismus in der Kunst“ sucht, steht eine Befassung mit diesem Thema noch weitgehend aus. Diversifizierung, also die Förderung marginalisierter Gruppen, sollte im Bereich von Kunst und Kultur auch sozial Benachteiligte mitdenken und ihnen den Zugang erleichtern.

Das einzige Gemälde, das ich heute besitze, ist von der Straße. Das Bild einer Sonne, die in einer Wüste untergeht. „Ein Original“, sagte der Verkäufer, der es neben Schuhen und alten Handys am U-Bahn-Eingang verkaufte. Es gefiel mir, aber es war keine echte Kunst, sagte ich mir sofort, sonst läge es ja nicht hier auf der Straße. „Ein Original, ein Original“, wiederholte der Mann immer wieder und zeigte auf die Signatur. Zuerst wollte er 80, dann nur noch 20 Euro („Für Zigaretten und Bier“). Zu Hause sah ich mir die Signatur an, J. Berger, und fand im Internet einen bekannten Künstler gleichen Namens. Kurz hatte ich den Impuls, ins Museum zu fahren und das Bild schätzen zu lassen.

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