NDR-Doku über Queerness in Deutschland: Der Fortschritt trügt

Mobbing, Anfeindungen, diskriminierende Gesetze: „Jeder Tag ein Kampf?“ zeigt, wie queere Menschen in Deutschland leben und behandelt werden.

Vier Menschen sitzen auf einer Wiese. Hinter ihnen geht die Sonne unter, die Bäume haben noch keine Blätter. Paulino steht auf der Wiese und hält eine Progress-Flag in den Händen.

Sowohl die Doku als auch Paulinos Progress-Flag zeigt, wie divers queere Identitäten sind Foto: NDR

Ein Zusammenschnitt von Straßenumfragen aus den 1970er Jahren: Die Meinung der Bun­des­bür­ge­r:in­nen zu Homosexualität kann man heute kaum ohne Triggerwarnung wiedergeben. Antworten von „Unnatürlich“ über „Zuchthaus“ bis zu Fantasien, die an die NS-Zeit erinnern, lassen ein schreckliches Bild der alten BRD entstehen.

Das Jahr 2022, ein Mikrofon, dieselbe Frage – und die Pas­san­t:in­nen antworten ganz anders. „Ist doch schön.“ „Warum nicht?“ „Das ist nichts Ungewöhnliches.“ „Leben und leben lassen.“ Das ist vielleicht einer der seltenen Momente, die glauben machen, dass wir gerade in ganz guten Zeiten leben.

Diese beiden Stimmungsbilder stammen aus der ARD-Dokumentation „Jeder Tag ein Kampf? – Queere Menschen in Deutschland“. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass mit der Doku gesellschaftlicher Fortschritt gefeiert wird. Warum auch nicht? Seit fünf Jahren gibt es die Ehe für alle, die erste lesbische Datingsendung der Welt „Princess Charming“ geht bald im deutschen Privatfernsehen in die zweite Staffel, zwei Abgeordnete des Deutschen Bundestags sind trans Frauen, die neue Bundesregierung hat einen Queerbeauftragten. Oberflächlich sieht die Situation queerer Menschen in Deutschland gar nicht so schlecht aus.

Aber eben nur oberflächlich. Der Reporter Klaas-­Wilhelm Brandenburg, der durch die Doku führt, ist schwul und um die Jahrtausendwende aufgewachsen. Zusammen mit einer alten Schulfreundin stellt er fest: Hätte er sich in seiner Schule im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern geoutet, wäre er mit großer Sicherheit das Ziel von Anfeindungen und Mobbing gewesen: „ ‚Schwul‘ war eher ein Schimpfwort.“

„Jeder Tag ein Kampf“, Montag, 20. Mai, 22.50 Uhr, ARD

Abgesehen von der Lage schwuler Männer will Brandenburg mit seiner Doku allerdings besonders auf eines hinweisen: Es gibt Menschen mit anderen queeren Identitäten, die bisher in der Gesellschaft noch weniger präsent und anerkannt sind – teilweise sogar Zielscheibe rechter Propaganda. Deshalb trifft sich Brandenburg mit nonbinären und trans Personen und fragt sie nach ihren Erfahrungen. So gibt „Jeder Tag ein Kampf?“ einfühlsam und niedrigschwellig Menschen eine Bühne, die sie dringend bekommen sollten.

Oft geht es in den Gesprächen um queerphobe Aggres­sio­nen und darum, welche Traumata sie bei den Prot­ago­nis­t:in­nen hinterlassen haben: Trans­mann Paulino aus Ulm erzählt beim Spaziergang am Fluss Iller davon, wie seine Eltern ihn ablehnten. Dass man ihn in ein Mädchenheim steckte und dort zwingen wollte, ein Kleid zu tragen. Diese Form von Gewalt hat in seinem Leben zu großen psychischen Krisen geführt.

Offene Städte – unsichere Räume

Jasmin ist nichtbinär und erinnert sich an die wiederholten Male, als Jasmin und Part­ner:in mitten in Berlin angefeindet wurden, weil die beiden Händchen hielten. Den resultierenden Stress beschreibt Jasmin eingängig: Immer müsse man mit einem Auge wachsam die Umgebung beobachten. „Und wenn wir merken, da sind Menschen, die komisch wirken, lassen wir sofort die Hände los, gehen einen halben Meter auseinander und gehen auf Beste-Freunde-Modus.“

Lou aus Köln arbeitete in einem Job, im dem die Mitarbeitenden Lou absichtlich mit dem falschen Namen und den falschen Pronomen ansprachen. Sie wollten nicht akzeptieren, dass Lou keine Frau ist. „Ich will mich nicht verstellen, damit ihr euch wohler fühlt“, das ist Lous Einstellung dazu. Die nichtbinäre Repräsentation in „Jeder Tag ein Kampf“ zeigt, wie selbst offene Städte unsichere Räume für queere Menschen bleiben.

Die persönlichen Erfahrungen untermauert Brandenburg mit Statistiken und Umfrageergebnissen. Diese zeigen, wie selten queere Menschen zur Polizei gehen, wenn sie angegriffen wurden, dass nur ein Drittel der queeren Menschen sich traut, im Job offen als queer aufzutreten, und dass über die Hälfte aller Befragten einer Umfrage glauben, trans Personen hätten genug oder sogar zu viele Rechte.

Die Ampelkoalition hat angekündigt, die Rechte queerer Menschen weiter auszubauen: Das diskriminierende sogenannte Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1980 soll zum Beispiel von einem Selbstbestimmungsgesetz abgelöst werden, heißt es im Koalitionsvertrag.

Wenn Brandenburg aber etwas mit seiner Doku zeigt, dann das: Es muss politisch, aber auch gesellschaftlich noch viel passieren, damit queere Menschen in Deutschland gleichberechtigt und ohne Angst leben können. „Jeder Tag ein Kampf?“ leistet dazu einen wertvollen Beitrag.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.