Vor Beginn der Koalitionsverhandlungen: NRW-Grüne sehen schwarz

In Nordrhein-Westfalen wollen CDU und Grüne in Koalitionsverhandlungen einsteigen. Das Kernklientel der Grünen bleibt skeptisch.

Wollen NRW zur „ersten klimaneutralen Industrieregion Europas“ machen: Hendrik Wüst und Mona Neubaur Foto: dpa

ESSEN taz | Nordrhein-Westfalen steuert in Richtung Schwarz-Grün. Am frühen Sonntagabend haben Spitzengremien beider Parteien die Aufnahme formeller Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer gemeinsamen Landesregierung beschlossen. Bei den Grünen tagten 74 Delegierte eines „Landesparteirat“ genannten kleinen Parteitags in der Essener Philharmonie, bei der CDU der erweiterte Landesvorstand in Düsseldorf. Gegenstimmen gab es bei den Grünen keine – lediglich sieben Enthaltungen. Aus dem CDU-Landesvorstand war zu hören, dass die Entscheidung dort einstimmig gefallen sei.

Damit gilt ein Bündnis beider Parteien an Rhein und Ruhr als gesetzt. Die Landesvorsitzenden von CDU und Grünen, Hendrik Wüst und Mona Neubaur, hatten nach viertägigen Sondierungsgesprächen schon am Freitagabend für Schwarz-Grün geworben. Die „Gleichzeitigkeit von Krisen“ wie Ukrainekrieg Klimakatastrophe und Corona erfordere „neue Antworten und Bündnisse“, heißt in einem zwölfseitigen Sondierungspapier, das sich bereits wie ein kleiner Koalitionsvertrag liest.

CDU und Grüne sind Sieger der Landtagswahl vom 15. Mai. Die Christdemokraten des bisher mit der FDP regierenden Ministerpräsidenten Wüst fuhren mit 35,7 Prozent leichte Gewinne ein. Die Grünen konnten ihr Ergebnis mit 18,2 Prozent fast verdreifachen. Zwar ist in NRW rechnerisch auch eine Ampel wie im Bund möglich. FDP-Landeschef Joachim Stamp hat aber klargemacht, dass er fest mit einem Bündnis der Wahlsieger rechnet.

In Essen warben führende Grüne wie Neubaurs Co-Parteichef Felix Banaszak, die Frak­ti­ons­che­f:in­nen Josefine Paul und Verena Schäffer sowie der Verkehrsexperte Arndt Klocke deshalb emotional für die Koalitionsverhandlungen mit Wüsts CDU. „Als ich vor zwölf Jahren zum ersten Mal als jüngste Abgeordnete in den Landtag gewählt wurde, hätte ich mir nie vorstellen können, diesen Satz zu sagen: Ich möchte euch empfehlen, Koalitionsverhandlungen mit der CDU aufzunehmen“, erklärte die heute 35-jährige Schäffer. „Wir werden der Teil der Landesregierung sein, der dafür sorgt, dass Politik endlich auf die Höhe der Zeit kommt“, versicherte auch Verhandlungsführerin Neubaur selbst ihren Parteifreund:innen.

Restriktives Versammlungsgesetz bleibt vorerst

Tatsächlich versprechen CDU und Grüne, „Nordrhein-Westfalen zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas“ machen zu wollen. Trotzdem standen die Christdemokraten bei diesem Kernthema offenbar auf der Bremse: Hatten die Grünen in ihrem Wahlprogramm versprochen, den Umbau zur Klimaneutralität bis 2040 abschließen zu wollen, fehlt in dem Sondierungspapier jede konkrete Jahreszahl.

Fallen soll allerdings die bisher von der CDU gestützte 1.000-Meter-Abstandsregel zwischen Windrädern und Wohnbebauung, die den Ausbau der Windkraft massiv behindert. Von der „Solarpflicht“ für Neubauten und Bestandsgebäude, die die Spitzenkandidatin im Wahlkampf immer wieder gefordert hatte, ist dagegen keine Rede mehr. Versprochen wird nur, „sämtliche für Photovoltaik geeignete Flächen“ nutzen zu wollen.

Kröten schlucken müssen die Grünen auch im Verkehrsbereich: Zwar wird die Schaffung eines landesweiten Schnellbusnetzes angekündigt – doch der geforderte verbindliche Ein-Stunden-Takt zur Umsetzung einer „Mobilitätsgarantie“ fehlt. In der Innenpolitik konnten die Christdemokraten ebenfalls punkten: Das restriktive, die Demonstrationsfreiheit einschränkende NRW-Versammlungsgesetz von CDU-Innenminister Herbert Reul bleibt erst einmal in Kraft, soll aber bis 2023 „unabhängig und wissenschaftlich evaluiert“ werden.

Grüne Jugend erwartet „deutliche Nachverhandlungen“

Trotzdem forderte nur die Sprecherin der Grünen Jugend in NRW, Nicola Dichant, die Delegierten auf, den Koalitionsverhandlungen mit der CDU nicht zuzustimmen – und sich bei der Abstimmung wie die Parteijugend zumindest zu enthalten. Im Sondierungspapier fehle ein klares, deutliches Bekenntnis zur Klimaneutralität ebenso wie zur Rettung des vom Braunkohletagebau bedrohten Dorfes Lützerath.

Auch bei Reuls Versammlungsgesetz, bei bezahlbarem Wohnen erwarte sie „deutliche Nachverhandlungen“, sagte Dichant. Ungeklärt sei auch die Finanzierung des Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs und der Bekämpfung des Pflegenotstands, kritisierte die 23-Jährige.

Aus dem Kreisverband Essen erinnerte Fabian Klein-Arndt an das unterbelichtete Kapitel „Arbeit und Soziales“. Eine „Leerstelle“ blieben die Themen Armut und Armutsbekämpfung, befand der Essener: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir Sozialpolitik für alle machen – oder nur Klientelpolitik für die, die CDU und Grüne gut finden.“

Kritik kommt schon jetzt auch aus der Szene der grünen Unterstützer:innen. Schon am Sonntag demonstrierten in Essen Ak­ti­vis­t:in­nen von Naturschutz- und Verkehrsinitiativen. „In der Klimabewegung sind schon heute viele von den Grünen enttäuscht“, erklärte der 40-jährige Roman Bonitz, der vor der Philharmonie ein Ende des Braunkohle-Abbaus im rheinischen Revier forderte.

Allerdings: „Eine Bestandsgarantie für die vom Braunkohletagebau Garzweiler bedrohten Dörfer“ fehle im schwarz-grünen Sondierungspapier ebenso wie ein Stopp des Neubaus von Kraftfahrzeugstraßen und das Netto-Null-Ziel beim Flächenverbrauch, sagt auch der Landesvorsitzende des Umweltverbandes BUND, Holger Sticht. Aktuell wird in NRW jeden Tag die Fläche von 18 Fußballplätzen zubetoniert. „In nahezu allen Bereichen“ hätten die Grünen „wichtige Positionen geräumt“, klagt Sticht deshalb: „Da ist noch viel Luft nach oben.“

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