Alkoholismus auf dem Land: Glück auf dem Schützenfest

Der Volksmund weiß: Auf dem Land wird mehr getrunken als in der Stadt – und schlechter. Das mag stimmen, ist aber nur die halbe Geschichte.

Ein Mann zielt mit einem Gewehr in die Luft, im Hintergrund trinkt jemand Bier

Saufen, schießen, kotzen (nicht im Bild): Schützenfest in Bielefeld Foto: Martin Langer/Agentur Focus

ALDORF taz | Mein allererstes Bier hatte ich nicht bestellt, aber doch drauf gewartet. Wir standen damals betont gelassen etwas abseits zweier Flutscheinwerfer unter einer Kastanie und schielten zu dem Mann in Feuerwehruniform: ein wandelndes Klischee mit fleckiger Haut und roter Nase, der zwar nicht mehr geradeaus laufen konnte, irgendwie aber doch das Kunststück vollbrachte, einen Schwung Plastikbecher Haake-Beck über den Schotter zu balancieren.

Wie gesagt: Bestellt hatte keiner und er fragte auch nicht, ob jemand vielleicht eins wolle, sondern umgekehrt: „Wer fährt von euch?“ Da war ich 14, meine Freunde ein bisschen älter.

Getrunken wurde dieses Bier (nebst drei weiteren sowie zwei Fläschchen Sahnelikör Marke Babalou) in Aldorf, einem Paar-Hundert-Seelen-Dorf in Niedersachsen, wo zwar nie jemand durchkommt, es aber immer etwas zu feiern gibt.

Meistens bei der Freiwilligen Feuerwehr. Damals soll etwa angeblich das neue Löschgruppenfahrzeug LF 16/12 begossen worden sein: ausgestattet mit einer dreiteiligen Schiebeleiter, einer vierteiligen zum Stecken und der Kreiselpumpe mit immerhin 1.600 Litern Nennleistung. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber beim Bier bin ich mir sicher. Prost!

Alle hatten Angst, zu kotzen

„Feuerwehrball“, hieß die Sause auf der Wiese und sie verlief weitgehend ohne Zwischenfälle. Alle hatten Angst, zu kotzen, mussten dann aber doch nicht. Geknutscht wurde nicht und es gab auch keine Schlägerei, an die ich mich erinnern könnte. Ich weiß noch – ehrlich wahr! – dass mir auf dem Fahrrad zwischen den Maisfeldern hinterher dieser Ärzte-Song in den Sinn kam: „Ist das alles?“ Aber nein, das war gerade erst der Anfang.

Denn die Welt ist größer als Aldorf, und Haake-Beck gibt es auch in der Nachbarschaft: in Dickel, Donstorf und Düste – in Drebber auch. Und da war man im Sommer am Wochenende eben unterwegs. Bis heute treffen sich einige meiner alten Freun­d:in­nen immer mal auf dem Viehmarkt, beim Bockbierfest oder anlässlich der Krönungszeremonie der diesjährigen Schützenkönigin.

Natürlich waren wir selbst nie Schützen oder Feuerwehrleute. Wir waren Metalheads, Gruftis, Neohippies, Nerds oder zu spät geborene Punks. Anders als viele andere kam ich nicht mal aus einem echten Alkihaushalt. Im Gegenteil: Mein Vater trank damals zwei Gläser Wein pro Jahr und war dann jeweils drei Tage krank. Meine Mutter war auf Geburtstagen nach dem ersten Sekt beschwipst. Beides war mir peinlich, aber es war eben ganz bestimmt weder einladend noch bedrohlich.

Aber drumherum wurde immer getrunken: Bei runden Geburtstagen haben die Kinder die Zapfanlage bedient und ausgeschenkt. Auch beim Fußball wurde so viel gesoffen wie bei den ständigen Richtfesten, Taufen, Beerdigungen …

Zumindest bei mir ists keine familiäre Frage, sondern eine der Kultur im Ganzen. Wo andernorts vielleicht Berge oder große Flüsse die Landschaft in Form bringen, waren es bei uns auf dem platten Land die Liefergebiete der Brauereien. Wir waren ganz klar Haake-Beck-Land, etwas weiter im Süden schmückten beleuchtete Herforder-Embleme die Gasthofwände und Bierdeckel. Im Norden lag Jever, aber da war ich nie. Selbst wer eigentlich kein Bier mochte, wusste doch die Hassliebe zur eigenen Marke mindestens nachzuahmen. Auf dem Brokser Heiratsmarkt sah ich vor ein paar Jahren mal einen Grundschüler, der unter dem Johlen diverser Väter immer wieder den gleichen Spruch raushaute: „Bier kost’ zwei Mark, Haake-Beck eins fuffzich.“

Man spricht so leicht von Gewöhnung, als ob das was Gutes wäre. Eine brandaktuelle Studie bestätigt meiner Nachbarschaft tatsächlich auch, sich in Sachen Alkoholismus einigermaßen im Griff zu haben. Unter acht Millionen Nie­der­säch­s:in­nen hätten gerade mal 130.000 ein Alkoholproblem. Natürlich ist das ein Problem der Hellfeldstatistik und wahrscheinlich auch eins der zählenden Krankenkasse, für die Saufen erst dann zum Problem wird, sobald sie die Rechnung kriegt. Ich glaube jedenfalls eher an den Umkehrschluss: Nur 1,6 Prozent der niedersächsischen Trin­ke­r:in­nen lassen sich behandeln.

Aber die Normalität der Sauferei hat durchaus ihre guten Seiten. Meine erste richtige Schnapsleiche habe ich zum Beispiel erst Jahre später in der Großstadt gesehen, beim Zivildienst in Hamburg: eine minderjährige Notaufnahme von der Reeperbahn.

Aber was solls? Die Lebenslüge, sich im Griff zu haben, ist wohl wirklich kein ausschließliches Landproblem. Spannender als die Quantität ist sowieso die Qualität: Was also gesoffen wird. Und das ist auch mehr als nur eine Stilfrage. Auf meinem ersten satanistischen Blackmetal-Konzert war ich zum Beispiel wirklich baff, weil die fies geschminkten Satansknechte vom Dorf an der Theke alle Bier und Korn tranken. Wie mein Opa also, der mit Fug und Recht als einer der uncoolsten Menschen der Weltgeschichte durchgehen dürfte.

Auf unseren Partys gab es Haake und zwei Sorten „Cocktails“: Korn-Cola und Wodka-O. Privat manchmal noch Ballantine’s und Bacardi – aber so Stadtsachen wie damals die große Caipirinha-Schwemme um die Jahrtausendwende? Niemals!

Eine Ziege steht auf einer Bierbank und will aus einem Bierglas trinken

Nur nicht meckern: Huftier trinkt mit Foto: Frantisek Dostal/voller Ernst/Fotofinder

Ich bevorzuge den grundsoliden Ekel des Schlichten tatsächlich bis heute. Wer stärker am Boden haftet, dreht besser steil, das ist so. Kurz vor Corona war ich kurz auf einem Schützenfest, um jemanden abzuholen. Und das war toll: junge Menschen, die über Pilsener und Discofox in eine Ekstase verfallen, mit der die urbane Clubkultur niemals mitkommt.

Im Zelt lief erst Helene Fischers Bal­lerbass und dann Peter Schillings „Major Tom“. 16-Jährige liegen sich mit leuchtenden Augen in den Armen „und vöhöllig losgehelööööst!“ Und das waren die wirklich: ganz ohne Ironie ganz wirklich glücklich. Es ist dumm und falsch, sich darüber lustig zu machen: Das adoleszente Glücksversprechen vom Schützenfest ist so todernst wie die Leberzirrhose irgendwann später.

Meine Lieblingsgeschichte geht so: Nach einer durchfeierten Nacht beim Freund auf dem Dorf weckt uns ein wirklich bestialischer Gestank. Ich muss kotzen, aber nicht vom Bier. Der Blick aus dem Badezimmerfester, kurz vor Sonnenaufgang, offenbart einen schmalen schwarzen Streifen auf dem grauen Acker und die Erinnerung kommt zurück.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Wir waren die drei Kilometer von der Dorfdisco in Luftlinie über den Acker gelatscht – den frisch gegüllten. Und morgens stieg dann wie im Moor die Jauche in den Fußabdrücken nach oben. Die Schuhe sind im Müll, aber die Erinnerung trage ich noch immer nah am Herzen.

Für Städ­te­r:in­nen sind das Episoden am Rande irgendwelcher Festivals: Wacken, Scheeßel, keine Ahnung. Für uns war das jedes zweite Wochenende zwischen 1996 und 2001. Oder 2008, wenn man das Studium und die Besuche bei den Daheimgebliebenen noch mitzählt. Vorbei ist es jedenfalls.

Es ist komisch, an meine Freunde und Mitschüler aus Bockbierfest-Zeiten zurückzudenken. Drei sind schon tot, zwei abstinent – die meisten anderen haben einen Kult aus der Sauferei gemacht. Da steht dann auf Facebook, sie hätten letztes Jahr 300 verschiedene Craftbeer-Sorten probiert. Oder sie kaufen heute Gin und Rum zu dreistelligen Preisen, den sie aus dem richtigen Glas trinken, mit dem richtigen Eis und dem richten Spezial­zucker.

Ich bin beim Haake-Beck geblieben, trinke manchmal mehr, als mir geheuer ist, und dann vorsichtshalber lieber ein paar Monate lang nichts. Und gerade in solchen Phasen ist es hier auf dem Land wieder ein bisschen wie früher unter diesem Aldorfer Kastanienbaum: wo das Bier rüberwankt, das keiner bestellt hat.

Der Nachbar reicht eins über den Zaun, weil es gerade nicht regnet (oder eben doch). Beim Fußball hat wer was im Kofferraum, weil man zufällig gerade einkaufen war – und beim Abholen vom Kindergeburtstag gibts ein „Stehpils“, weils ja doch wieder fünf Minuten dauern wird, bis alle Fahrradhelme gefunden sind.

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Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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