Eurovision
Solidaritäts Contest

Die ukrainische Gruppe Kalush Orchestra hat mit ihrem Lied „Stefania“ den ESC gewonnen – vor allem dank internationalem Mitgefühl für das von Russland angegriffene Land. Drei Ukrainer*innen berichten, wie sie den Wettbewerb erlebt haben

Militärische Unterstützung: Ukrainische Sol­da­t*in­nen in der Nähe von Kiew feiern den Sieg Foto: Valentyn Ogirenko/reuters

Blau, Gelb … Rosa? Mit Flaggen und Mützen im Stil des Kalush-Sängers zeigt ein Flashmob in Turin Solidarität mit der Ukraine Foto: Fo­to:­ Lu­ca Bruno/ap

Aus Luzk Juri Konkewitsch

Die Übertragung des ESC-Finales am Samstagabend beginnt gleichzeitig mit der Sperrstunde. Die Straßen in Luzk sind leer, in den Städten an der Front gucken die Menschen dem Auftritt der Gruppe Kalush Orchestra in Luftschutzbunkern zu – ganz anders als in den vergangenen Jahren, als sich die Ukrai­ne­r*in­nen vor großen Bildschirmen in Kneipen oder einfach bei Freunden zu Hause versammelten. Die Ukraine hat den ESC bereits zweimal gewonnen – Ruslana 2004 und Jamala 2016 mit einem Lied über die Deportation der Krimtataren unter Stalin. Und jetzt Kalush Orchestra.

„Im nächsten Jahr wird die Ukraine den ESC ausrichten. Zum dritten und, ich glaube, nicht zum letzten Mal. Wir werden alles dafür tun, damit das ukrainische Mariupol eines Tages die Teilnehmer und Gäste begrüßen wird“, sagt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, als er der Gruppe zum Sieg gratuliert.

Seit Kriegsbeginn am 24. Februar hatte eine Welle internationaler Sympathie die ukrainischen Vertreter zu Anwärtern auf den Titel gemacht. Beim nationalen Ausscheid am 12. Februar hatte Kalush Orchestra eigentlich Platz zwei belegt, dann kochte in den sozialen Netzwerken ein Skandal hoch: Die Erstplatzierte Alina Pash war 2015 von Russland aus auf die Krim gereist, ein Gesetzesverstoß. Pash überließ Kalush Orchestra den Vortritt.

Die Hip-Hop-Gruppe gründete sich 2019 in der kleinen Stadt Kalush im Westen der Ukraine, von dort stammt auch der 27-jährige Leadsänger Oleh Psyuk. Seine Musik ist eine Mischung aus Hip-Hop, Lyrik und Folklore. Das Lied „Stefania“ ist Psyuks Mutter gewidmet, die als Verkäuferin arbeitet. Doch jetzt, wo Krieg herrscht, haben die Worte „Das Feld blüht und die Mutter ergraut. Sing für mich ein Wiegenlied, Mutter. Ich möchte noch einmal deine heimischen Worte hören“ einen neuen Klang bekommen. „Viele vermissen ihre Mütter und glauben, dass ich über die Ukraine singe, unser aller Mutter“, sagt Psyuk.

Die Nachricht über den Kriegsbeginn erreichte die Band auf dem Weg zu einem Konzert in Dnipro. Ein Mitglied verließ die Gruppe, um zu kämpfen. Alle anderen begannen sich als Freiwillige zu engagieren. Wegen des Krieges hätte die Ukraine ihre Teilnahme auch absagen oder einfach eine Aufnahme eines Auftritts schicken können. „Sie wollen unsere Kultur zerstören. Wir sind hier, um zu zeigen, dass diese Kultur lebendig ist“, sagte Psyuk dazu. Vor ihrer Reise zum ESC waren Kalush Orchestra in Irpin – einer Kleinstadt im Großraum Kiew, die die Russen zerstört haben – genauso wie im benachbarten Butscha. Dort spielte die Gruppe vor Einheimischen und nahm auch einen Clip für „Stefania“ auf. Danach tourte die Gruppe durch Israel, die Niederlande, Spanien und Polen und sammelte dort Geld für den Wiederaufbau der Städte.

Die Ukraine feiert – zurückhaltend und ohne Feuerwerk, aber im Glauben daran, dass der Sieg in Turin nicht der letzte für die Nation ist. In den sozialen Netzwerken schreibt die Sängerin Tatjana Wlasowa: „Eigentlich ist der diesjährige ESC so wie immer, wie überhaupt überall Normalität herrscht, wo Russland nicht ist.“ Zoja Kasanschi, Aktivistin aus Odessa, schreibt: „Ich will nur eins: dass der ESC 2023 in Kiew stattfindet. Dass zuerst Kalush singt, dann Jamala und Ruslana. Und dass im Saal die Kämpfer des Asow-Bataillions sitzen, gerettet und am Leben.“ Die brennendste Frage wirft jedoch das Institut für Massenkommunikation auf: „In welcher befreiten Stadt wird der ESC stattfinden?“ Und dann „regnet“ es Antworten: Kiew, Jalta, Mariupol, Charkiw, Cherson, Butscha …

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

Aus Berlin Anastasia Magasowa

„Ukraine, Ukraine!“, rufen zwei junge Frauen und ziehen ukrainische Flaggen aus ihren Handtaschen. Als sie sich der Schlange nähern, fängt auch die Menge an zu skandieren. Tatort: die kleine Bar Meduza, im Berliner Stadtteil Kreuzberg, die Ukrainer betreiben. Schon eine Stunde vor Beginn der Übertragung des ESC ist hier kein Tisch mehr frei.

Als endlich die ukrainische Gruppe Kalush Orchestra ihren Auftritt hat, geht in der Bar die Post ab. Die Melodie reißt auch diejenigen mit, die nicht gekommen sind, um Musik zu hören, sondern um ihre Solidarität mit der Ukraine auszudrücken. Obwohl nicht einmal alle Ukrainer die Worte des Hip-Hop-Liedes verstehen, singen sogar Leute, die keine slawische Sprache beherrschen, den Refrain mit den Worten „Mama Stefania“ mit. “Rettet Mariupol, rettet Asowstal jetzt!“ – ruft der Solist der ukrainischen Gruppe nach dem Auftritt, die völlige Freude über das Lied wird sofort von Gedanken an die Realität überdeckt – an den brutalen Krieg. Erinnerungen kommen hoch – an die Soldaten, die in Mariupol eingekesselt sind, an Hunderte Verletzte im Lazarett, deren Evakuierung der Kreml nicht zulässt. „Für mich haben sie schon jetzt gewonnen. Sie haben sich mit einer sehr wichtigen Botschaft an die ganze Welt gewandt“, sagt eine junge Frau, die sich eine kleine ukrainische Flagge auf die Wange gemalt hat.

Während die anderen Teilnehmer auftreten und die Stimmen ausgezählt werden, beginnt immer wieder jemand aus der Menge den Refrain des ukrainischen Liedes zu singen, andere Gäste stimmen mit ein. Und am Ende folgt der traditionelle Spruch: „Ruhm der Ukraine, den Helden sei Ruhm.“ Wenn man nicht wüsste, unter welchen Umständen für die Ukraine dieser Wettbewerb stattfindet, könnte man denken, dass alles in Ordnung sei. Als die ersten Resultate, die Voten der Jurys, bekanntgegeben werden und die Ukraine lange Zeit keine guten Wertungen bekommt, geht die Stimmung kurzzeitig in den Keller. „Das bedeutet noch gar nichts, wir verlieren nicht den Mut“, feuern sich die Ukrainer gegenseitig an, alle sind sichtlich aufgeregt. Dann hagelt es Punkte aus der Publikumsabstimmung: 10 Punkte aus Deutschland und Frankreich, 12 aus der Republik Moldau, Lettland, Rumänien und Litauen. Jede Wertung wird mit begeisterten Rufen quittiert. Schließlich landet die Ukraine auf Platz vier.

„Jetzt wirds interessant“, sagt ein Typ am Nebentisch, der ein gelb-blaues T-Shirt trägt. Die Wertungen der Zuschauer aus der Republik Moldau, Armenien, Polen und Lettland lassen auf sich warten. Die Spannung im Publikum steigt. Dann schlägt die Nachricht der Moderatoren wie ein Blitz ein: „Ukraine: 469 Punkte!“ Ein Rekordergebnis. Jetzt zweifelt niemand mehr daran, dass die Ukraine gewinnen wird. Und so kommt es auch.

Solche Freudenschreie hat diese Straße in Kreuzberg wohl schon lange nicht mehr gehört. Alle fallen sich in die Arme und gratulieren einander zum Sieg, während sie bereits beginnen, die Melodie des Liedes „Stefania“ erneut anzustimmen. „Europa hat einmal mehr seine Unterstützung für die Ukraine gezeigt.“ – „Wir haben jetzt gewonnen, wir werden den Krieg gewinnen.“ – „Nächstes Jahr ESC in einer friedlichen Ukraine“ lauten die ersten Reaktionen in der jubelnden Menge.

Nach fast drei Monaten Krieg haben die Ukrainer endlich Grund zur Freude. Auch wenn es mehr ein Zeichen der Solidarität denn eine Bewertung der Musik ist, was zählt, ist die Unterstützung für die Ukraine. Denn das Land kämpft um sein Recht zu existieren.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel

Aus Odessa Tatjana Milimko

„Für mich ist das nicht einfach ein Sieg bei einem Song Contest! Dieser Sieg hat mich davon überzeugt, dass die Ukraine im kommenden Jahr ein friedliches Land sein wird, ein erneuertes, wieder aufgebautes Land, das aus diesem Krieg als Sieger hervorgegangen sein wird. Ich weine. Ruhm der Ukraine!“ Dieser Post war der erste, der in meinem Social-Media-Feed auftauchte. Er war von der Odessitin Elena. Und ich sehe das ganz genau wie sie. In den letzten 24 Stunden hat in Odessa niemand geschlafen. Zum ersten Mal seit langer Zeit nicht wegen irgendwelcher Alarmmeldungen, sondern wegen der ESC-Diskussionen. In meiner Heimatstadt wird dieser Wettbewerb geliebt.

Auf Facebook habe ich einen Beitrag über den ESC gepostet und Freunde aus Odessa zu einer Diskussion darüber eingeladen. Es gab die Sorge, dass die Organisatoren des Wettbewerbs die Ukraine wegen politischer Botschaften disqualifizieren würden. Zwar hatte die Gruppe Kalush ihre Nummer wohl angepasst, um das Politische zu minimieren. Aber dann kam am Ende ihres Auftritts der Satz: „Help Ukraine Mariupol. Help Azovstal“. Bei einem Liederwettbewerb sollte das Hauptaugenmerk dem Lied und den Künstlern gelten. Aber mal ehrlich: Die ganze Welt schaut gerade zu, wie ein tapferes Land und seine Einwohner verzweifelt gegen einen Aggressorstaat kämpfen, der um ein Vielfaches größer ist. Der Sänger der Band Kalush – von den ersten Kriegstagen an in der Territorialverteidigung aktiv – hat das Lied für seine Mutter geschrieben, also für die ganze Ukraine.

Es ist unmöglich, einfach rauszugehen und zu singen, wo gerade alles wegen des Krieges so schmerzhaft ist. Ich habe mir einige ausländische Reaktionen auf Kalush angesehen. Alle sagten, dass sie sehr professionelle Arbeit machen, die einfach nicht ohne Emotionen funktioniert. Und obwohl sie den Text nicht verstanden, haben die Menschen ihn intuitiv begriffen. Als die Organisatoren sagten, dass die Gruppe für ihr politisches Statement auf der Bühne nicht bestraft wird, gab es keine Zweifel mehr, dass wir gewinnen würden.

Grigori, Musiker aus Odessa, glaubt: „Alle, für die der Krieg am Rande Europas bislang ganz weit weg erschien, werden jetzt aufwachen. Google hilft Menschen dabei zu verstehen, was unser Künstler dem geschätzten Publikum sagen wollte.“ Und noch etwas habe ich bemerkt: Unter meinen Odessaer Freunden war niemand, der auf das Fehlen von Russland und Belarus beim Wettbewerb mit Schadenfreude reagiert hat. Natürlich sympathisiert aktuell niemand mit ihnen. Es ist eher so, als gäbe es dieses Thema nicht, als hätten sie weder mit Europa noch mit der europäischen Konkurrenz etwas zu tun. Es reichten fünf Minuten, um einmal mehr zu verstehen, wie unterschiedlich wir sind.

In der Nacht, als in Turin die Gewinner bekanntgegeben wurden, heulte in den meisten Gebieten der Ukraine der Luftalarm. Das ist natürlich eine starke Dissonanz. Der Kopf widersetzt sich fortwährend diesem Krieg, er möchte Lieder hören und sich über den Sieg freuen. Er möchte sich vorstellen, in welcher Stadt in unserem dann friedlichen Land dieser europäische Wettbewerb stattfindet und welches Land dann gewinnen wird. Die Odessiten tippen auf Polen oder Deutschland. Und würden den Wettbewerb am liebsten bei uns in Odessa haben. Als ich am Morgen danach auf den Hof komme, ruft meine Nachbarin: „Auf den Sieg!“ „Das gleiche wünsche ich Ihnen auch“, antworte ich. Ich weiß, dass wir das irgendwann noch mal zueinander sagen werden.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey