Einsturzgefahr wegen Hohlräumen: Auf bröselndem Grund gebaut

In Hannover müssen eine Straße gesperrt und ein Mehrfamilienhaus geräumt werden. Ein halbes Stadtviertel wurde auf alten Asphaltstollen gebaut.

ein Fahrzeug des Tiefbauamtes steht vor einem Einfamilienhaus

Plötzlich unbewohnbar: das Haus in Hannover-Ahlem, davor ein Fahrzeug des Tiefbauamtes Foto: Julian Stratenschulte/dpa

HANNOVER taz | Weniger als 24 Stunden hatten die vier Mietparteien, um ihre Sachen zu packen und ihre Wohnungen zu räumen. Immerhin hatte die Stadt Hannover Arbeiter der städtischen Betriebe vorbeigeschickt, die beim Möbel schleppen halfen. Und die Vermieterin war in der glücklichen Lage, Ersatzwohnungen ganz in der Nähe anzubieten. Unheimlich ist das trotzdem: „Akute Tagebruchgefahr“ – so was kennt man sonst aus dem Harz oder dem Ruhrpott.

Der hektische Auszug in der vergangenen Woche war der vorläufige Höhepunkt in einem Drama, dass sich nun schon seit ein paar Monaten im Hannoverschen Stadtteil Ahlem abspielt. Rund hundert Grundstücke mit 70 Häusern liegen in der Gefahrenzone.

Große Teile der Siedlung wurden in den 1950er-Jahren über alten Stollen gebaut. In denen wurde von 1850 bis 1925 Asphalt abgebaut – zunächst über Tage, dann bald auch unter Tage. Das ehemalige Bauerndorf Ahlem erlebte dadurch einen rasanten Aufschwung. Im Heimatmuseum finden sich die verwischten Schwarz-Weiß-Bilder von Menschen mit Schubkarren, Spitzhacke und Schaufel, geisterhafte Gestalten mit dreckverschmierten Gesichtern.

In diesen Stollen spielte allerdings auch der historische Tiefpunkt der Dorfgeschichte: 1944 mussten hier KZ-Insassen und Zwangsarbeiter schuften, sie sollten das alte Stollensystem nutzbar machen, um die kriegswichtige Produktion der Continental AG und des damals hier angesiedelten Panzerwerkes der Maschinenfabrik Niedersachsen Hannover (MNH) unter die Erde zu verlegen.

Auch Luftschutzbunker für die Bevölkerung befanden sich in den Stollen. Bei Bombenalarm liefen die Einwohner an den ausgemergelten Gestalten vorbei, berichtete eine Zeitzeugin dem NDR. „Das habe nicht nur ich gesehen, dass haben alle gesehen, die in den Bunker gegangen sind“, sagte Ruth Gröne, die damals elf Jahre alt war.

Notdürftig zugeschaufelt

Rund 750 KZ-Häftlinge, überwiegend polnische Juden, sollen hier umgekommen sein, die letzten wurden noch im April 1945 auf einen Todesmarsch Richtung Bergen-Belsen getrieben. 250 Häftlinge blieben zurück, weil sie nicht mehr marschfähig waren. Sie wurden wenige Tage später von amerikanischen Soldaten – unter ihnen der spätere Außenminister Henry Kissinger – befreit.

Nach Kriegsende verfuhr man hier genauso, wie man an vielen anderen Orten in Deutschland erst einmal mit der Vergangenheit umging: Notdürftig zuschütten und drüber bauen. Man war ja mit Überleben beschäftigt und die Stadt wimmelte von Ausgebombten, Vertriebenen und Displaced Persons, Wohnraum wurde dringend gebraucht.

Allerdings hatte man nur die Eingänge zugeschüttet, die Stollen selbst wurden nicht verfüllt, dazu waren das Baumaterial und die Arbeitskraft zu kostbar. Das rächt sich nun. Lange Jahre wiegte man sich in Sicherheit. Wohl auch in dem Glauben, dass die Schicht zwischen den alten Stollen und den entstehenden Häuschen doch dick genug sein müsste – immerhin baute man hier ja keine Hochhäuser, es entstanden größtenteils bescheidene Einfamilienhäuser und ein paar zweistöckige Mehrfamilienhäuser.

Es ist auch nicht so, dass man die alten Gruben einfach vergessen hat: Die Straßen heißen „Am Asphaltberge“, „Stollenweg“ oder sind nach den Direktoren der Asphaltfabriken benannt. Auch in den Bebauungsplänen finden sich Vermerke, für größere Bauvorhaben gab es Auflagen.

Feilschen um die Kosten

Dummerweise ist es nun so, dass solche unterirdischen Hohlräume mit den Jahren nicht stabiler werden, im Gegenteil. Theoretisch, als „latente“ Gefahr, war das jedem bekannt, auch der Stadt. Kleinere Absackungen soll es immer wieder gegeben haben. Schon 2013 erklärte ein Gutachter, dass dringend weitere Erkundungsbohrungen vorgenommen werden müssten. Doch das scheiterte an ungeklärten Zuständigkeiten, wie die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) minutiös nachgezeichnet hat.

Die Stadt ging davon aus, dass hier das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie (LBEG) zuständig sein müsste – wie für alle anderen Altlasten des Bergbaus auch. Doch das weigerte sich. Der Asphaltabbau sei nie unter das Bergrecht gefallen, bei dem Ausbau für die Kriegsproduktion oder als Luftschutzbunker ist das mindestens strittig. Das übergeordnete Wirtschaftsministerium stützt diese Interpretation.

Die Stadt versuchte sogar, dies vor dem Verwaltungsgericht klären zu lassen – das ließ das Verfahren aber ruhen, weil es der Meinung war, das erst das Innenministerium als Dienstaufsicht über den Streit zu entscheiden habe. Dabei blieb es erst einmal. „Bis heute liegt uns keine Antwort vor“, sagte der aktuelle Stadtbaurat Thomas Vielhaber der HAZ. Er hatte das Verfahren von seinem Vorgänger geerbt und muss jetzt sehr schnell aktiv werden.

Im Sommer 2021 schlug eine eindeutige Alarmmeldung vom LBEG bei der Stadt auf: Eine ähnliche Grube in Südniedersachsen hatte sich als einsturzgefährdet erwiesen, man sollte die alten Asphaltstollen in Ahlem nun dringend einer weiteren Prüfung unterziehen. Auch der Umweltminister Olaf Lies (SPD), dessen Haus man als oberste Baubehörde eingeschaltet hatte, drängte darauf, dass hier nun erst einmal die Gefahrenabwehr zu geschehen habe, während Land, Region und Stadt weiter um Kostenübernahme und Zuständigkeiten feilschen.

Das ist keine Kleinigkeit: Auf über zehn Millionen schätzt man die Kosten für die Verfüllung der alten Stollen bisher. Erst einmal musste die Stadt allerdings ein Spezialunternehmen damit beauftragen, in die Archive abzutauchen und herauszufinden, wo die Erkundungsbohrungen überhaupt angesetzt werden müssten. Schon das historische Kartenmaterial aus den Asphaltzeiten ist teilweise widersprüchlich – die Erweiterungen aus den Kriegszeiten sind gar nicht dokumentiert.

Verfüllung dauert Jahre

Kurz vor Ostern begannen dann die ersten Probebohrungen – und sofort häuften sich die Alarmmeldungen, weil die eingelassenen Kameras nicht kartierte Hohlräume erfassten. Quasi über Nacht mussten Teile der Heisterbergallee gesperrt werden – einer wichtigen Verbindungsstraße, neben der auch die Straßenbahnstrecke verläuft. Auch die durfte zwei Wochen lang nicht mehr fahren, erst als die Üstra ein eigenes Gutachten in Auftrag gab, dass die Erschütterungen bei Schritttempo gering genug seien, konnte sie die Wendeschleife hier vorsichtig wieder in Betrieb nehmen. Die beiden Supermärkte an der Straße sind nach wie vor nur über einen Zickzack-Parcours erreichbar und von Bauzäunen umstellt.

Bald soll die Begutachtung so weit abgeschlossen sein, dass die Stadt in einer weiteren Bürgerversammlung am 24. Mai über die Ergebnisse informieren und erste Sanierungspläne präsentieren kann. Mit dem Verfüllen wird man aber sicher noch ein paar Jahre beschäftigt sein, deutete der Bauamtschef auf einer Pressekonferenz schon einmal vorsichtig an.

Stadtbaurat Thomas Vielhaber wird allerdings nicht müde zu betonen, dass die Anwohner keinesfalls zur Kasse gebeten werden sollen. Die Kosten würden unter Stadt, Region und Land aufgeteilt – wie genau, darum wird weiter gefeilscht.

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