Japanische Mangas der Sechziger: Der Schatten der Baumgeister

Japanische Gekiga-Mangas sparen nicht mit Gesellschaftskritik. Zwei Verlage veröffentlichen nun deutsche Übersetzungen.

In „Yoshios Jugend“ erzählt Yoshiharu Tsuge aus dem tragikomi­schen Leben eines Manga­zeichners

In „Yoshios Jugend“ erzählt Yoshiharu Tsuge aus dem tragikomi­schen Leben eines Manga­zeichners Comic: Reprodukt

Seit ein paar Jahren werden in Deutschland ausgewählte Mangas zum ersten Mal übersetzt, die in Japan schon lange Kultstatus genießen. Nachdem etwa der Hamburger Carlsen Verlag wichtige Klassiker Osamu Tezukas – des einflussreichsten japanischen Zeichners nach dem Zweiten Weltkrieg – in Gesamtausgaben veröffentlichte (etwa „Kimba“), hat sich der Berliner Verlag Reprodukt auf Werke hierzulande bislang übersehener Künstler konzentriert, die als Meilensteine des modernen Mangas gelten können.

Gekiga (übersetzt: „dramatische Bilder“) nennt sich dieses Genre, das Anfang der 60er Jahre aufkam und vorwiegend junge Erwachsene ansprach. Im Vergleich zu ­Mainstream-Mangas zeichnet sich Gekiga durch ernsthafte, persönliche, oft gesellschaftskritische Geschichten sowie individuelle Zeichenstile aus.

Der 1937 geborene Yoshiharu Tsuge gehört zu den Vorreitern dieser Richtung. Obwohl er 1987 aus gesundheitlichen Gründen mit dem Zeichnen aufhörte, sind seine Gekigas aus den 70er und 80er Jahren bis heute legendär und Vorbild für viele jüngere Zeichner. Stilistisch hat sich Tsuge nie festgelegt.

In frühen Geschichten, die im Band „Rote Blüten“ (erschienen bei Reprodukt 2019) nachgelesen werden können, ist noch der Einfluss von Tezuka und Shigeru Mizuki erkennbar, in späteren wie in „Der nutzlose Mann“ (2020) und im kürzlich erschienenen Band „Yoshios Jugend“ (mit Geschichten von 1972 bis 1981) hat Tsuge seine Zeichenweise gefunden: einen variablen, experimentellen Stil, der oft düster und nihilistisch wirkt.

Yoshiharu Tsuge: „Yoshios Jugend“. Reprodukt, 440 Seiten, 24 Euro

Susumu Katsumata: „Roter Schnee“. Reprodukt, 232 Seiten, 16 Euro

Osamu Tezuka: „MW“. Carlsen Verlag, Hardcover, 584 Seiten, 28 Euro

Die gesellschaftlichen Veränderungen der 68er-Zeit spiegeln sich in Tsuges Kurzgeschichten aus den 1970er Jahren und münden in Fragen der Sinnsuche und künstlerische Kompromisslosigkeit.

Absurd-fantastische Mangas

Inhaltlich überschreitet Tsuge sehr oft Grenzen des konventionellen Mangas, vor allem durch absurd-fantastische Einfälle, die zum Teil Aufzeichnungen von Träumen sind, bis hin zu schockierenden, grenzwertigen Gewalt- und Sexfantasien.

Die surreale Geschichte „Das anschwellende Außen“ handelt von einer nur als aquarellierter Schemen gezeichneten Figur, die sich von einer formlosen Masse, dem „Außen“, bedroht sieht. Sie flieht aus dem eigenen Haus, irrt dann durch Straßen und sucht schließlich in unterirdischen Gängen vergeblich nach einem Ausgang. Tsuge verarbeitete in solchen Geschichten eigene Erfahrungen mit Depressionen und Angstzuständen und visualisierte seine Ängste in eindringlichen Bildmetaphern.

Auch rea­lis­ti­sche Storys wie die Titelgeschichte „Yoshios Jugend“ zeigen das Spektrum Tsuges. Die Titelgeschichte gibt einen unterhaltsamen Einblick in die Manga­szene der 60er Jahre, als Tsuge Assistent von Shigeru Mizuki war; er erzählt hier auf pointierte Weise aus dem tragikomischen, stets klammen Leben eines jungen Mangazeichners.

Der Mangazeichner verhandelt mit dem Verleger über sein Honorar

aus: „Yoshios Jugend“ von Yoshiharu Tsuge Comic: Reprodukt

Als einer der ersten Zeichner hat Tsuge die Icherzählung im Gekiga etabliert. Seine Geschichten unterscheiden sich auch vom typischen Großstadtsetting der meisten Main­stream­mangas: Er bevorzugt die unscharfen Randzonen zwischen Stadt und Land, verwilderte twilight zones, in denen verstörende Dinge stattfinden können.

Noch weiter weg aus urbaner, vertrauter Umgebung entführen die Geschichten von Susumu Katsumata (1943–2007), der wie Tsuge ab 1964 für das neue Magazin Garo zeichnete, worin die wichtigsten Gekiga­künstler veröffentlichten. Die im Band „Roter Schnee“ enthaltenen Kurzgeschichten wurden zuerst in den 70er und 80er Jahren veröffentlicht.

Wie kein anderer Zeichner fängt Katsumata, der selbst auf dem Land aufwuchs, die schon weitgehend verschwundene Welt des vormodernen Japans vor dem Zweiten Weltkrieg ein. Die Charaktere wirken oft kindlich, und die Geschichten sind in einem trügerisch lieblichen, weichen Strich gehalten. Dabei handeln sie oft von Rohheiten, Arbeit auf dem Feld oder in einer Sakebrauerei, in Herbergen und Bordellen. Sexuelle Gelüste treffen auf ländliche Gepflogenheiten und Aberglauben.

Tsuge bevorzugt die Randzonen zwischen Stadt und Land, verwilderte „twilight zones“

In „Kodama“ („Baumgeist“) will der Holzfäller Kumaichi seine Tochter mit einem seiner Gehilfen verkuppeln. Doch wird sie jede Nacht vom Baumgeist der großen Kastanie in ihrem Garten heimgesucht. Als Kumaichi dahinterkommt, soll der Baum gefällt werden.

Zauberhafte Momente

Besondere grafische Sorgfalt legt der Zeichner auf einzelne Höhepunkte wie hier die Sequenz, in der sich der Baumgeist aus dem Holz des bereits verwundeten Baums nachts herauslöst. So entstehen zauberhafte Momente, wie sie in Mangas heute nur noch selten vorkommen. Die Erzählstruktur ist offen, manchmal elliptisch, und passt sich den unterschiedlichen Geschichten an.

Wie bei Tsuge können manche Geschehnisse (vor allem sexueller Art) verstören, aber auf weniger provokante Weise, da immer auch ein leicht derber Humor im Spiel ist. Katsumatas Zeichnungen sind lyrischer, setzen auf Stimmungen, die Natur und die Jahreszeiten spielen eine wichtige Rolle. Seine Gekigas sind eher Geheimtipps, werden aber wegen ihrer poetischen Erzählweise als Ausnahmen in der Mangaszene hoch geschätzt.

Auch der erwähnte ­Altmeister Osamu Tezuka (1928–1989), in Japan „Gott des Manga“ genannt, wollte mit der Zeit gehen. Den künstlerischen Siegeszug des Gekigas beobachtete er aufmerksam – ab Ende der 60er Jahre begann er sich selbst auf diesem Gebiet zu versuchen mit historischen Ansätzen wie „Buddha“ sowie mit Medizinthrillern wie „Kirihito“ oder „Blackjack“.

Reale Vorbilder

Der nun bei Carlsen erschienene, knapp 600 Seiten starke Thriller „MW“ entstand 1976 bis 1978 als Fortsetzungsmanga für das Magazin Big Comic und ist im gegenwärtigen Japan angesiedelt. Hintergrund sind reale Vorkommnisse: Die Besatzungsmacht USA besaß zahlreiche Militärstützpunkte und lagerte zu Kriegszwecken entwickelte Chemiewaffen auf der Inselgruppe Okinawa, wo es 1969 zu einem Unfall kam.

Tezuka bezieht sich auf dieses Ereignis, bei ihm lagert das „Land X“ große Mengen von MW (mad weapons) auf der Pazifikinsel Okino Mafune. Bei einem Unfall tritt Giftgas aus, Hunderte Menschen sterben. Nur zwei überleben, die fortan schicksalhaft miteinander verbunden sind. 15 Jahre später ist der damalige Junge Yuki ein erfolgreicher Banker und der etwa zehn Jahre ältere Überlebende Garai ein katholischer Priester.

Yuki führt jedoch ein Doppelleben, begeht furchterregende Verbrechen und schreckt auch vor Mord nicht zurück. Vater Garai fühlt sich schuldig, denn ihn verbindet seit Jahren eine homosexuelle Beziehung zum androgyn-bisexuellen Yuki. Hinter dessen Gewalttaten wird bald ein Plan sichtbar, der in die höchsten Kreise führt, da der Giftgasvorfall damals von Politikern vertuscht wurde.

Tezuka entwirft einen wahren Pageturner, der mit immer neuen Wendungen aufwartet und dabei moralische und politische Fragen aufwirft. Seitenhiebe treffen etwa die USA, deren Einsatz im Vietnamkrieg auch in Japan kritisiert wurde, und den damaligen Premierminister Tanaka, der in den Lockheed-Bestechungsskandal involviert war.

Die Ambivalenz der faszinierend entworfenen Hauptfiguren (die Buchstabenkombination MW ist auch ein Hinweis auf Yukis männlich-weibliche Wandelbarkeit) sorgt für ein Wechselbad der Gefühle.

Sexualität und Mordfantasien

Tezuka überschritt Grenzen des Erzähl- und Zeichenbaren im Manga, insbesondere was die Darstellung von Se­xua­li­tät und Mordfantasien betrifft. „MW“ ist in einem dynamischen, filmischen Stil gezeichnet und erinnert in seiner psychologischen Tiefe an Fjodor Dostojewskis „Schuld und Sühne“, einen Roman, den der Zeichner bereits 1953 als Manga adaptierte. Der Einfluss von Tezukas Thriller wiederum erstreckt sich auf aktuelle Mangareißer wie ­Naoki Urasawas „Monster“.

Alle drei Neuerscheinungen sind herausragende Beispiele für anspruchsvolles Erzählen in der Blütezeit des Gekigas. Sie rütteln an manchem Tabu – gestern wie heute.

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