Lammert über Merkels Russlandpolitik: „Kein ewiges Schweigegelübde“

Wird sich Angela Merkel bald zur eigenen Russlandpolitik äußern? Ex-Bundestagspräsident Lammert glaubt das – und kritisiert die Kommunikation des amtierenden Kanzlers.

Portrait von Norbert Lammert

„So etwas wie die Personalisierung eines Zeitgeistes“, sagt Lammert über Merkels Kanzlerschaft Foto: Tim Brakemaeier/dpa/picture alliance

taz: Herr Lammert, Deutschland war bei Kriegseinsätzen des Westens eher zurückhaltend. Muss sich die deutsche Rolle in EU und Nato nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ändern?

Norbert Lammert: Die in Politik und Medien erklärte Zeitenwende erschüttert die traditionell ausgeprägte deutsche Neigung zum Pazifismus stark. Vieles spricht dafür, dass diese Veränderung längerfristig sein wird. Die notwendigen Veränderungen werden für das Selbstverständnis Europas und der EU als verfasster Staatengemeinschaft beinahe noch wichtiger sein als die Veränderungen in Deutschland. Allerdings werden diese Veränderungen in Europa gar nicht zustande kommen können, wenn sie nicht mit Veränderungen in Deutschland verbunden sind.

Was heißt das konkret?

Dass eine europäische Sicherheitsarchitektur erforderlich ist – nicht anstelle der Nato, aber als eigenständiger Bestandteil der Nato. Und ohne besonderen Beitrag Deutschlands und Frankreichs wird es dazu nicht kommen. Das setzt in beiden Ländern eine ungemütliche Diskussion über zwei festgefügte Tabus voraus. Auf französischer Seite, was die nationale Verfügungsgewalt über das einzige in der EU verfügbare nukleare Waffenpotenzial anbelangt. Und auf deutscher Seite, was die Parlamentsarmee betrifft.

Deutschland muss sich von der Parlamentsarmee verabschieden?

Nein, aber für eine europäische Sicherheitsarchitektur müssen wir darüber nachdenken, wie die bewährte Mitwirkung des Parlaments an der Entscheidung über Einsätze mit der notwendigen Supranationalität der Einsatzfähigkeit einer neuen Struktur verbunden werden kann.

Das Kanzleramt hat mit dem Argument, dass die Gefahr eines Atomkriegs größer würde, lange gegen die Lieferung von schweren Waffen argumentiert. Wie beurteilen Sie das?

Abstrakt betrachtet, sind beide Annahmen über die Wirkungen des Einsatzes oder Nicht­einsatzes bestimmter Waffensysteme plausible Annahmen, die aber jeweils nicht beweisfähig sind. Da auf der russischen Seite offenkundig alles nur von einem Kommando abhängt, kann niemand die Frage schlüssig beantworten, welches dieser beiden Szenarien wirklichkeitsnäher ist.

73, ist seit 2018 Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Zuvor war der promovierte Sozialwissenschaftler, der seit 1966 Mitglied der CDU ist und aus Bochum stammt, Präsident des Bundestags.

Sie verstehen die Argumentation von Olaf Scholz?

Seine Besorgnisse sind ja nicht frei erfunden. Aber ich finde problematisch, dass er diese nicht offensiv begründet. Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kommunikation ist inzwischen vielleicht die wichtigste Qualifikation von Spitzenpolitikern. Ob bei Gesundheitsfragen, beim Klima oder beim Militär: Patentlösungen gibt es nicht mehr. Deshalb ist es notwendig, die Öffentlichkeit an dem Abwägungsprozess teilnehmen zu lassen. Olaf Scholz gelingt das leider nicht gut, und er vermittelt auch nicht den Eindruck, als sei ihm das besonders wichtig.

Wie bei seiner Vorgängerin.

Ja, wenn auch nicht in einer vergleichbar dramatischen Situation. Robert Habeck dagegen kommuniziert seine Abwägungen. Darauf kommt es im Augenblick entscheidend an.

Olaf Scholz hat sich, nach langer Zurückhaltung, im Spiegel-Interview erklärt und mehrere Argumentationen angeboten, warum Deutschland keine Panzer an die Ukraine liefern sollte – um drei Tage später das Gegenteil zu tun.

Vielleicht stand nur noch nicht fest, woher die Munition für die Gepards kommen sollte. Aber ihm gelingt leider auch in der internationalen Wahrnehmung nicht, seine Zögerlichkeit nachvollziehbar zu machen.

Klingt nach angewandtem Merkelismus.

Es gibt erstaunliche Parallelen. 2015 gab es angesichts der massiv gestiegenen Flüchtlingszahlen nach der Ansage „Wir schaffen das“ eine spontan breite Bereitschaft der Bevölkerung zu helfen. Je länger der Zustand andauerte, desto mehr erodierte diese Bereitschaft und desto größer wurde der Erklärungsbedarf. Der wurde nicht befriedigt, das ist auch ein Grund, warum die AfD heute im Bundestag sitzt.

Nach dem Angriff auf die Ukraine und Scholz’ denkwürdiger Regierungserklärung sagten 52 Prozent der Bevölkerung Ja zu Positionen, die vorher tabuisiert waren: 100 Milliarden für Nachrüstung, mindestens 2 Prozent des Sozialproduktes dauerhaft für Sicherheit und Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Und weitere 26 Prozent meinen sogar, das reiche nicht aus.

Meine Erfahrung sagt mir, das wird sich ähnlich entwickeln wie beim Thema Flüchtlinge: Je länger der Zustand andauert, desto größer wird der Erklärungsbedarf. Und wenn keine Erklärungen ­geliefert werden, wird die Akzeptanz immer geringer und die Erosion der Autorität parallel dazu ­größer.

Derzeit wird die SPD wegen ihres Verhältnisses zu Russland stark kritisiert. Aber aufseiten der Union gab es auch viele Versäumnisse. Wie wird Ihre Partei das aufarbeiten?

Die gerade begonnene Programmdiskussion bietet einen guten Rahmen für eine solche Selbstverständigung. Sie kann Rückfragen an frühere Posi­tio­nierungen nicht ausweichen. Und der neue Parteivorsitzende tabuisiert das nicht. Das halte ich auch für richtig.

Muss die Ära Merkel wegen der Folgen auch ihrer Russlandpolitik neu bewertet werden?

Hat es eine abgeschlossene Bewertung der Ära gegeben?

Als Merkel gegangen ist, gab es ein geradezu wehmütiges Verhältnis zu ihr.

Angela Merkel war weit über die Parteipräferenzen hinaus so etwas wie die Personalisierung eines Zeitgeistes, zu dem auch das Festhalten an Errungenschaften und die Vermeidung unnötiger Auseinandersetzungen gehörte. Wenn sich aber vermeintliche Selbstverständlichkeiten im Lichte neuer Entwicklungen als fragwürdig darstellen, dann muss eine Partei die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit aufarbeiten.

Konkret?

Das Festhalten an bestimmten Energieversorgungsstrukturen und die damit verbundene Abhängigkeit von einem einzelnen Lieferanten fossiler Energien und die Klimapolitik.

Frank-Walter Steinmeier hat im Nachhinein noch einmal erklärt, warum er Minsk I und II so verhandelt hat. Von Angela Merkel gibt es bislang nur einen dürren Satz zu der Frage des Nato-Beitritts der Ukraine und Georgien 2008. Reicht das?

Natürlich nicht. Sie hatte bei ihrem Ausscheiden aus dem Amt gesagt, sie werde sich ein halbes Jahr lang überhaupt nicht äußern. Ich glaube nicht, dass sie jetzt ein ewiges Schweigegelübde einhält.

Sie gehen davon aus, dass sie sich noch erklärt?

Man würde die Ernsthaftigkeit ihres Politikverständnisses maßlos unterschätzen, wenn man ihr unterstellte, sie interessiere diese Frage nicht oder sie lasse sie nicht an sich heran.

Das nehmen wir mal als Ja. Gibt es eine Art moralische oder politische Verpflichtung der Ex-Bundeskanzlerin, darüber zu reflektieren?

Jedenfalls eine begründete Erwartung. Und diese Erwartung ist umso seriöser, je ernsthafter man bereit ist, sich mit den Argumenten auseinanderzusetzen, die zur Erläuterung vorgetragen werden.

Ihre Partei ist gerade in einer schwierigen Situation: Sie muss sich in der Opposition profilieren, aber gleichzeitig mit Blick auf den russischen Angriffskrieg an der Seite der Regierung stehen. Ein Ergebnis ist ein gemeinsam beschlossener Antrag von Ampel und Opposition zur Unterstützung der Ukraine, der auch die Lieferung schwerer Waffen beinhaltet. Ist das der richtige Weg?

Mich persönlich hat das überzeugt. Eine Partei, die über Jahrzehnte das Land regiert hat und nun zur eigenen Überraschung in der Opposition ist, kann sich weder auf diese neue Rolle zurückziehen noch sollte sie so tun, als sei sie noch Bestandteil der Regierung. Ich fand die Reaktion von Friedrich Merz auf die Regierungserklärung von Scholz am 27. Februar wohltemperiert. Er hat die Bereitschaft der Opposition erklärt, das mitzutragen, und den Anspruch, auch an der Ausgestaltung beteiligt zu werden. Das finde ich plausibel – schon gar mit Blick auf Grundgesetzänderungen, die es ohne die Union nicht gibt.

Finden Sie die Ansage von Herrn Merz, die Union würde bei der Grundgesetzänderung für das 100-Milliarden-Sondervermögen nur so viele Stimmen liefern, wie es bei geschlossener Zustimmung der Ampel bis zur Zweidrittelmehrheit bedarf, auch plausibel?

Da würde ich jetzt zwischen oppositioneller Rhetorik und operativem Handeln unterscheiden. Bei einer namentlichen Abstimmung über einen Militäreinsatz in der Regierungszeit von Gerhard Schröder 2003 haben die erklärten Dissidenten ausgewürfelt, wer zustimmen musste, damit Rot-Grün eine Mehrheit hatte. Eine ähnliche namentliche Aussortierung von Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich mir nicht vorstellen.

Wäre es den Unionsanhängern zu vermitteln, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine 100-Milliarden-Spritze für die Bundeswehr scheitern lässt?

Nein, wäre es nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn klar ist, dass dies tatsächlich ausschließlich für diesen Zweck verwendet wird. Aber das ist ja genau einer der Streitgegenstände.

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