Russische Propaganda im Ukrainekrieg: Zerrissene Familien

Eine Mutter spricht wie das Staatsfernsehen. Ihr Sohn verlässt das Haus. Der Krieg löst auch familiäre Konflikte in Russland aus. Drei Protokolle.

Eine Frau steht mit einer Blume in der Hand, einem grünen Tuch über dem Kopf im Schnee, umringt von Sicherheitskräfte, die sie beobachten

Unter Beobachtung: Eine Frau spaziert durch die Moskauer Innenstadt Foto: afp

Mit der Verblendung konfrontieren

Ich war lange Zeit fest davon überzeugt, Putin sei gut für unser Land. Ich trat in die Regierungspartei Einiges Russland ein, war im Jugendparlament unserer Stadt aktiv. Ich nutzte all das als sozialen Aufstieg. Ohne den Staat kann man in Russland nichts werden. Und ich hatte mich schon als 18-Jähriger als Kleinunternehmer versucht. Dafür braucht man gewisse Verbindungen.

Dann aber hatte ich angefangen, den Blog von Alexei Nawalny zu lesen – und dachte mir: „Es ist was faul in unserem Staat.“ Ich fing an, Nawalny-Flugblätter zu verteilen, auf Demos zu gehen, Nawalny-Organisationen zu unterstützen. Im Jahr 2015 verstand ich endgültig, dass ich in einem Russland, wie es zu dem Zeitpunkt war, nicht leben will. Bewusst suchte ich nach Stellen im Ausland und fand eine in den USA. Zu Hause in Ischewsk, einst als Siedlung für ein Eisenhüttenwerk gebaut und später durch Waffenfabriken erweitert, tausend Kilometer von Moskau entfernt, hatte ich alles. Mehrere Wohnungen, ein Unternehmen für Zuckerwattenproduktion, keine Geldsorgen.

Und doch war immer diese innere Unruhe da, immer dieser Gedanke im Hinterkopf, dass unser Land sich in eine gefährliche Richtung entwickelt. Nun ist Krieg. Meine Intuition hat mich nicht verlassen. Noch im Januar holte ich meine Familie hierher nach Florida, mein achtjähriger Sohn besucht nun hier die Schule. Ich pendelte jahrelang zwischen den USA und Russland, seit 2020 lebe ich fest hier. Meine Frau wollte ihr Leben in Russland nicht so schnell aufgeben. Auch jetzt zweifelt sie und sagt: „Alle Seiten lügen.“ Gespräche mit ihr sind schwierig.

Noch schwieriger ist es mit meiner Familie und meinen Freunden in Russland. Für sie bin ich ein Verräter. Sie sagen: „Na klar, du hast dich den Amerikanern verkauft, sie sind jetzt deine Herren, du dienst ihnen.“ Das verletzt. Mein bester Freund erzählt mir was von „die Ukrainer sind selbst schuld“. Meine Oma, bei der ich aufgewachsen bin, sagt: „Artjom, du darfst nicht schlecht über Russland reden. Einfach, weil man es nicht darf.“

Mein Onkel und meine Tante halten die Taten der russischen Truppen in Mariupol, in Butscha, in Kramatorsk für einen Fake. So wie es ihnen das Fernsehen vorbetet. „Die Ukraine ist wie ein kleiner Bruder, der sich schlecht benommen hat, und Russland haut ihn, wie große Brüder das nun mal tun, um kleine zur Besinnung zu bringen. Danach wird der Kleine dem Großen dankbar sein“, sagen sie. Ich kann solche Dinge einfach nicht fassen.

Aber mich abwenden? Nein, das sind ja meine Leute. Ich handle nach Sokrates: Ich stelle Fragen. Immer wieder Fragen. Das ist meine Art, sie mit ihrer Verblendung zu konfrontieren. Wie lange wollen sie sich und anderen denn noch erzählen, dass sie all den Dreck um sie herum so hinnehmen? Eines Tages will ich in ein anderes Russland zurück. Noch aber ist das ein weit entfernter Traum.

Artjom Medwedew, 36, ist Unternehmer aus Ischewsk. Vor zwei Jahren zog er in die USA.

Ein Sohn wird zum Verräter

Ich komme aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Jekaterinburg. Ein Provinznest. Schon als Schüler setzte ich mich für urbane Projekte ein. Ich gestaltete Schaukeln in den Höfen neu, ich wollte, dass meine Stadt schöner aussieht. Meine Eltern sagten immer: „Warum machst du das eigentlich? Es gibt doch nun wirklich Wichtigeres.“ Ich aber war immer überzeugt, dass wir alle ein besseres Leben haben werden, wenn dieses Leben einfacher wird.

Deshalb wollte ich zum Staat, in die Stadtplanung. Ich wollte Projekte gestalten, damit das, was uns umgibt, angenehmer wird. Ich fing schließlich an, Bauwesen zu studieren. Und jetzt? Zum Staat? Ich will nicht einmal mehr meine Familie sehen. Vor zwei Wochen bin ich aus der Wohnung meiner Mutter abgerauscht. Es war ein heftiger Streit. Mein Großvater nannte mich einen Bandera-Anhänger. Früher wurden ukrainisch-nationalistische Anhänger von Stepan Bandera so genannt, heute ist das ein russisches Schimpfwort für alle Ukrainer. Meine Mutter bezeichnete mich schreiend als Verräter.

Der Zwist hatte eigentlich schon am 24. Februar angefangen, als die ersten russischen Bomben auf die Ukraine fielen. Meine Familie sagt nicht Krieg dazu, sie nennt ihn „militärische Spezialoperation“, wie er offiziell in Russland genannt werden muss. Meine Mutter spricht ohnehin wie das russische Staatsfernsehen. Satz für Satz. Russland sei gezwungen gewesen, die Menschen in der Ukraine zu „befreien“, es habe keine Wahl gehabt, die Zivilbevölkerung leide nicht.

Die Ukraine sei kein echtes Land, die Ukrainer seien das Böse schlechthin. Hätte Russland nicht angegriffen, hätten die Ukrainer, getrieben vom Westen, das leckerste Stück Russlands abgebissen. Sie sagt das wirklich. Meine Mutter! Und sie glaubt auch daran. Ich habe es erst ruhig mit Fakten versucht. Aber mit Fakten ist nicht durchzudringen. Ich habe ihr auch den wirtschaftlichen Niedergang Russlands beschrieben. Es hilft nichts. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und ging.

Schweigen herrscht nicht nur zu Hause. Schweigen herrscht auch auf der Straße, im Bus, an der Uni. Man weiß nie, was das Gegenüber denkt, wie es sich positioniert. Ich sage selbst vor Bekannten nichts mehr. Es ist eine schwer zu ertragende Einsamkeit. Eine Uni-Dozentin für Wirtschaft erklärt uns allen Ernstes, wie gut Sanktionen für Russland seien. Mir wird übel dabei. Ständig laufe ich aus dem Unterricht raus, brauche kaltes Wasser. Sie macht sich lustig darüber: „Na, Michail, schwacher Magen?“ Wenn sie wüsste, was ich ihr alles ins Gesicht schreien will. Aber ich bleibe still. Ich wollte nie weg aus Russland. Jetzt denke ich immer öfter übers Auswandern nach.

Der 19-Jährige Michail studiert Bauwesen in Jekaterinburg.

Der Riss wird immer größer

„Fake, alles Fake“. Ich glaube, das ist der meistgebrauchte Ausdruck, den meine Eltern im Gespräch mit mir verwenden. Egal, was ich ihnen über das, was unser Staat in der Ukraine anstellt, erzähle, zeige oder vorlege. Sie wollen es nicht hören. Sie sagen es auch so: „Du hast deine Nachrichten. Wir haben unsere Nachrichten. Und unseren vertrauen wir.“

Dass ihre „Nachrichten“ reinste Propaganda sind, hinterfragen sie nicht. Keine Sekunde lang. Mein Vater ist Ingenieur, er lobte immer die Technik aus dem Westen, hat eine Zeit lang in London gelebt. Meine Eltern sind viel durch Europa gereist. Meine Mutter geht in die Kirche. Und jetzt sagen sie: „Alles Fake!“ Oder: „Die 90er haben wir auch überstanden, das hier überstehen wir auch.“ Sie lügen sich in die Tasche, weil sie sich nicht aus ihrer Komfortzone bewegen wollen.

Wir haben uns in den vergangenen Jahren immer weiter voneinander entfernt. Unser Verhältnis ist angespannt. Aber es sind meine Eltern, ich will nicht, dass ein Riss durch unsere Familie geht. Der Riss wird nun allerdings immer größer. Ich habe immer viele Fragen gestellt, war eine Suchende. In der Kirche, in sektenähnlichen Verbindungen, in marxistischen Kreisen.

2011 war ich auf meiner ersten regierungskritischen Demo. Es war schön zu erleben, dass ich nicht allein war im Hinterfragen dessen, was in unserem Land passiert. Vor der Verfassungsänderung vor zwei Jahren malte ich eines Abends vor unserem Haus in Koroljow, einer Satellitenstadt bei Moskau, ein Graffito: „Putin ist ein Dieb“, stand da. Am nächsten Morgen war das überstrichen.

Nach dem 24. Februar, dem Beginn des Krieges, unterstützte ich in den sozialen Netzwerken den Aufruf zur Antikriegsdemo. Plötzlich häuften sich die Anrufe der Polizei. Das machte mir Angst. Ich will nicht schweigen. Aber wenn man im heutigen Russland redet, lebt man gefährlich. Über kurz oder lang landet man hinter Gittern. Das will ich nicht. Anfang März packte ich meine Koffer. Ein früherer Bekannter in Baku nahm mich auf. Hier lebe ich nun, in Aserbaidschan, und weiß nicht recht, wohin mit mir. Ich bin Künstlerin, gestalte Stoffe. Drei Monate kann ich hier bleiben. Was danach ist? Keine Ahnung. Ein Gefühl der Verlorenheit hat mich erfasst. Und eine tiefe Traurigkeit.

Maria Semerenko, 36, ist Künstlerin aus Koroljow. Zurzeit lebt sie in Aserbaidschan.

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