Die Wahrheit: Lach wie der Teufel selbst

Im Vorhof zur Hölle. Verzweifelter Versuch einer Rettung aus der Unterwelt. Eine wahre Osterkriegsgeschichte für Furchtlose.

Illustration: Eine nackte Frau sitzt mit dem Rücken zu einer männlichen Gestalt. Ihre Schädeldecke ist geöffnet, der Mann scheint ihr das Gehirn auszusaugen

Illustration: Ulrike Haseloff

Ein Nichtsnutz, ein Säufer, ein lausiger Versager war er. Seit zwanzig Jahren hielt sie es jetzt mit ihm aus. Zwanzig Jahre. Und selbstverständlich tat er wieder einmal nicht das, was sie ihm sagte, wenn es darauf ankam. Als die Sirenen heulten und vor dem Luftangriff warnten, saß er wie üblich tief gebeugt über seinem kleinen schwarzen Notizbuch und kritzelte etwas hinein in seiner krakeligen Schrift, die sie nicht lesen konnte, und schreckte erst hoch, als sie ihn am Arm rüttelte: „Arkadi! In den Keller! Wir müssen in den Keller!“

Zu angetrunken, um sie sofort zu verstehen, raffte er sich nur mühsam auf, griff den schweren Mantel, den sie ihm hinhielt und folgte ihr hinaus ins Treppenhaus, wo er auf halber Strecke plötzlich umkehrte: „Das Buch. Bin gleich wieder da.“ Sie aber rannte die Stufen hinunter und war gerade im Keller angekommen, als die Bombe einschlug. Das Haus sackte ab und begrub ihn unter sich.

Seit zwei Tagen saß Lana im Keller und starrte auf die Wand gegenüber, auf die eiserne Tür, durch die nie jemand ging. Kurz vor dem Einschlag hatte sie im Radio gehört, dass ein berühmter französischer Fernsehmann, der in einer Feuerpause vor Ostern in die zerstörte Stadt eingeflogen worden war, um der Welt vom Grauen des Krieges zu berichten, vom „Vorhof zur Hölle in Mariupol“ sprach. Aber wenn sie hier unten im Vorhof saß, dann konnte die Hölle nicht weit sein, dachte Lana.

Sie starrte auf die eiserne Tür. Sie hatte nichts gegessen, ab und zu nahm sie ein paar Tropfen Wasser aus der geborstenen Leitung in der Wand. Um sie herum hatten sich die Hausbewohner eingerichtet und ihre wenigen Habseligkeiten ausgebreitet. Kinder spielten, Greise dämmerten auf ihren provisorischen Lagern vor sich hin. Und Lana starrte auf die eiserne Tür, bis sie einen Entschluss fasste, hinüberging und mit beiden Fäusten dagegen trommelte.

Augen hinter der Tür

„Lana! Swetlana! Reiß dich zusammen! Du machst den Kindern Angst“, mahnte Dr. Michaljak. Stets hatte der alte Erdkundelehrer beseelt von Russlands Weiten geschwärmt: „Alles Tundra! Alles Wald!“ Und jetzt weinte er die ganze Nacht durch. Doch Lana ließ nicht ab von der Tür. Bis sich ein Spalt auftat. Sie schreckte zurück. Ein übler Geruch schlug ihr entgegen. Ein dunkelrotes Paar Augen musterte sie.

„Ja, bitte?“ Verblüffend höflich wollte die wie aus einem unendlichen Saal hallende Stimme wissen, was sie wollte. „Ich … ich möchte hinein. Ich weiß, dass er hier ist“, sagte Lana. „Hier hinein? Niemals!“, antwortete das Wesen. „Leider gibt es zu viel zu tun. Viel zu viele Neuzugänge. Und dann erwarten wir noch eine höhergestellte Persönlichkeit aus dem Moskauer Raum“, suchte der Wächter Verständnis zu wecken. „Ich will und muss!“, bekräftigte Lana. Er sah sie streng an. „Hinein kommt nur, wer absolut furchtlos ist. Bist du ohne jede Furcht?“

Bei ihrer ersten Verabredung erzählte Arkadi ihr, dass er Dichter sei und Dichter nachts oft Tränen vergössen, weil sie keine Worte fänden, danach würden die Tränen am nächsten Morgen zu fließenden Strophen. Später gestand er ihr, dass seine Geschichte auf einer irischen Legende beruhte, in der allerdings die Tränen des Schreibers über Nacht zu Whiskey wurden. Feuerwasser war immer sein bester Freund gewesen.

„Ich habe keine Angst“, beharrte Lana. Ein Leben mit einem Mann wie Arkadi führen könne nur eine Frau, die keine Angst kenne. Der Wächter grinste, das sei wohl wahr. Nur unter einer Bedingung aber dürfe sie hier hinein: „Öffne deine Augen. Verschließt du sie, stirbst auch du. Bist du dazu bereit?“

Sie trat ein in die Dunkelheit der Unterwelt. Am Ufer eines Flusses saß ein wunderschönes junges Mädchen mit langem blonden Haar, dem ein Strohhalm im Auge steckte, durch den ein sagenhaft dicker nackter Mann ihr das Hirn heraussaugte, während Hunderte zu Aschestatuen erstarrte Pferde im kalten Flussnebel verbrannt dampften. Ein giggelndes Kind ohne Arme und Beine rollte ihr vor die Füße, und eine kreischende Katze mit unglaublichen Schmerzen wünschte sich ihr pochendes Herz, das angeblich Heilung versprach. Sie ging beinah ungerührt weiter.

In einem Raum mit zahllosen verspiegelten Türen gab der Wächter ihr ein Zeichen anzuhalten. „Ich stelle dir eine Frage. Wenn du sie zu meiner Zufriedenheit beantwortest, dann wird dein Wunsch in Erfüllung gehen: Warum soll er diesen Ort wieder verlassen dürfen?“

Lana überlegte angestrengt: „Weil er mich noch nicht zu Ende geliebt hat.“ Der Wächter schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht überprüfen, weil ich die Liebe nicht kenne. Sie muss dem Krieg ähnlich sein, den lieben die Menschen auch. Sag mir einen wirklichen Grund.“

Lana wusste nicht mehr weiter: „Weil er noch nicht ausgetrunken hat.“ Der Wächter lachte, aber schüttelte erneut den Kopf. „Es trinken viele, doch erreichen sie nie den Boden der Flasche. Sag mir einen wirklichen Grund.“

Bedingung fürs Bleiben

Lana war der Verzweiflung nahe: „Weil er noch nicht fertig gedichtet hat.“ Der Wächter blickte sie nachdenklich an: „Er ist ein Meister der Versäumnisse.“ – „Aber ein Meister“, verteidigte sie Arkadi gegen das vergiftete Lob. Das sei womöglich ein Grund, gab der Wächter zu. Wer schreibe, der bleibe. Vielleicht könne er tatsächlich zurückkehren – unter einer Bedingung: „Sag Verse von ihm auf, die bleiben.“

Das fragte der Wächter gerade sie, die Arkadis Schrift nicht lesen konnte; sie, die ihn mitunter hatte murmeln hören, wenn er sich unbeobachtet fühlte und den Klang der Verse nachhallen ließ. Von weit her flog sie etwas an, das so begann: „Lach, Geliebte, lacht doch der Teufel selbst / Und glaubt, dich im Innersten gut zu kennen / Dunkler als schwarz will er dein Lachen nennen / Das tapfer du ihm taff entgegen …“

Der Klingelton eines Telefons unterbrach sie. Eine archaisch alberne Melodie: „Sympathy for the devil.“ Der Wächter nahm den Anruf entgegen und nickte stumm in einem fort. Plötzlich donnerte und pfiff es, als ob eine Bombe retour aus dem sich hebenden und senkenden Boden gesogen würde, und das Grauen löste sich auf wie ein künstliches Gewitter hinter einem zerrissenen Theatervorhang. Stille.

Verstaubt und zerzaust, aber wohlbehalten stand Arkadi vor ihr. Eilig nahm sie seine Hand und führte ihn durch die Eisentür, ohne zurückzublicken. Er lebte. Lana lachte. Und selbst dem strengen Dr. Michaljak liefen die Freudentränen herab. Arkadi hauchte ihr glücklich ein Wort ins Ohr: „… hältst.“

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