Reformbedarf im Bildungssystem: Die Schulleitung hat genug

Laut einer Umfrage wünschen sich die meisten SchulleiterInnen radikale Reformen. Gut so, denn sie sitzen am Hebel der Veränderung.

Zwei Kinder verstecken sich hinter einer Schultafel

Das Geheimnis gelingenden Unterrichts ist tatsächliche Präsenz – nicht bloß anwesend zu sein Foto: Robert Pola/Plainpicture

Wirklich, gibt es sie? Schulleiter und Schulleiterinnen, die die tägliche Lernsimulation nicht mehr mitmachen wollen? Danach klingt zumindest das Ergebnis einer Befragung im Auftrag des Cornelsen Verlags unter 1.100 Schulleitungen, die am Mittwoch erschienen ist. Ihr zufolge würden sie so gut wie alle herkömmlichen Lehr- und Lerngewohnheiten am liebsten über den Haufen werfen und, wie es heißt, „Deutschlands Schulen mit ganz neuen Strukturen wieder aufbauen“.

Den gewohnten Fächerkanon von Grund auf zu reformieren, dafür seien laut Studie 82 Prozent der befragten Schulleitungen, rund ein Viertel will Schulfächer gleich abschaffen und fächerübergreifend unterrichten.

Von einer „neuen Kultur des Lernens“ ist gar die Rede! Die Studie soll repräsentativ sein und wurde vom Berliner Sozialforschungsinstitut FIBS mit Beratung seitens des renommierten Bildungsforschers Klaus Hurrelmann durchgeführt. Und selbst der scheint erstaunt zu sein. „Wer hätte das gedacht? Die Mehrheit der deutschen Schulleiterinnen und Schulleiter sind Reformer.“ Und Schulleitungen hätten in unserer Gesellschaft eine Schlüsselrolle.

Das ist auch die Erfahrung des Autors dieser Zeilen: In allen Schulen, in denen etwas zu gären begann und die schließlich Wein und nicht Essig hervorbrachten, ist das einer Person an der Spitze zu verdanken. Das passte zwar erst mal gar nicht zu beliebten Theorien, dass es aufs ganze Kollegium ankomme oder auf andere Gremien und Kollektive. Ist aber so. Die Leitung macht für gewöhnlich den Unterschied.

Dran glauben muss man, ganz untheologisch

Oft stehen übrigens Frauen an der Spitze gelungener Schulen. Wie die Wände einreißende Enja Riegel in Wiesbaden. Langweilige Flure wurden in Schülertreffs verwandelt. Theater wurde Hauptfach. Oder Ulrike Kegler aus Potsdam, bei der die Jugendlichen im Pubertätsalter zwei Schuljahre lang eine Woche im Monat nicht in die Schule gingen und sich stattdessen in Urformen von Kultivierung und Landwirtschaft übten.

Dass ganz und gar andersartige Lernkulturen – auch außerhalb der Schule – erfolgreich sein können, erfolgreicher sogar, ist lange belegt. Zum Beispiel 2004, da begleitete das Max Planck Institut für Bildungsforschung ein Sommercamp für Grundschüler in Bremen, mit viel Freizeit und Theater. Nach knapp drei Wochen stellte man fest: einen kognitiver Gewinn von mehr als einem Schuljahr – jedenfalls gerechnet in der Pisa-Währung. Ein Ergebnis, das die Wissenschaftler, darunter der deutsche Pisa-Papst Jürgen Baumert, erst selbst nicht glauben wollten und nachrechneten.

Aber der Glaube in solche Erfolge kam immer wieder schnell abhanden. Hier könnte man das Grundproblem erkennen: Dass man nicht dran glaubt! Glauben in einem ganz untheologischen Sinne. Dass „Theater und solche Sachen“ tatsächlich Wunder bewirken können.

Mehr Wunder gefällig? Eine „Deutsche Schülerakademie“ mit dem Soziologen Hartmut Rosa als Leiter. Zweieinhalb Wochen. Die Schüler sagen: Wir haben mehr gelernt als in der ganzen Oberstufe. Und der viel gefragte Wissenschaftler Hartmut Rosa, der seit 20 Jahren im Sommer solche Akademien leitet: „Es ist meine schönste Zeit im Jahr.“ Kurzum: Es wird ständig Tolles erdacht, ausprobiert, erprobt und erforscht. Nur an den Strukturen der Regelschule ändert sich fast nichts.

Theater mit Hintergedanken

Dass sich nun die SchulleiterInnen empowern, sich selbst ermächtigen, kommt zu einem günstigen Zeitpunkt. Denn nach zwei Jahren Pandemie stellt sich beim Fallenlassen der Masken heraus, dass der Normalzustand der allermeisten Schulen schon lange vor Corona eine Art Fernunterricht mit Anwesenden gewesen ist. Das Geheimnis des verlangten Kulturwandels wäre hingegen eine tatsächliche Präsenz! Nicht einfach Präsenzunterricht, sondern eine Lebens- und Lernwelt, in der Kinder, Jugendliche und vor allem Erwachsene ganz da sind. Tätig! Nicht nur über die Dinge redend.

Das Geheimnis wäre, das Hauptfach „Irgendwie durchkommen“ abzuschaffen! Nachdem die Wiesbadener Schulleiterin Enja Riegel hervorragende Leistungen der Schüler mit dem Satz erklärte: „Wer viel Theater spielt, wird auch besser in Mathematik“, haben einige Schulen versucht, es ihr nachzumachen. Es klappte nicht. „Betrug“ riefen sie und kehrten zum alten Striemel zurück.

Nein, liebe Nachäffer, ihr habt euch wieder mal selbst und die Kinder betrogen. Ihr habt Theater mit dem Hintergedanken gespielt, besser in Mathe zu werden. Ihr wart nicht bei der Sache. Ja, ihr wart nicht in der Welt. Ihr wart nicht präsent! Ihr wart im Um-zu-Modus, dieser alten Krankheit der Instrumentalisierung, Verwertung und Entwertung. Also liebe Schulleiterinnen und Schulleiter: Wagt ihr eine Bildungsrevolution oder bleibt es wieder mal bei Reformrhetorik? Setzt doch ein Manifest auf: „Es gibt Schulleiter, die machen nicht mehr mit!“ Es gibt einige, die würden euch helfen.

1967 haben wir, auch der Autor, in ganz Deutschland Flugblätter verteilt: „Es gibt Schüler, die machen nicht mehr mit.“ Ich wurde Bundesvorsitzender des AUSS (Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler). Im Stuttgarter Vorstand war damals Thomas Sattelberger, jetzt Staatssekretär im Bildungsministerium. Ich glaube, der würde auch noch mal mitmachen. Es ist an der Zeit für ungewöhnliche Bündnisse!

Ulrike Kegler, die Schulleiterin in Potsdam, wurde übrigens eines Tages wegen stark abweichender Ergebnisse bei den Vergleichsarbeiten zur Schulverwaltung beordert. Kegler fühlte sich an die blauen Briefe ihrer eigenen Schulzeit erinnert und fürchtete einen Rüffel. Stattdessen fragte der Schulrat: „Was ist Ihr Geheimnis?“

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