100 Tage Rot-Grün-Rot in Berlin: Was geht, Senat?

Die rot-grün-rote Landesregierung hat ihre ersten 100 Tage ohne große Pannen absolviert. Belastungsprobe wird nun die Expertenkommission zur Enteignung.

Hat den Hut auf und weiß, wo's lang geht: Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, SPD Foto: dpa

Am späten Donnerstagvormittag will der Senat bei einer Pressekonferenz bilanzieren, wie seine ersten 100 Tage verlaufen sind: jene Tage, die gern als Messlatte nach einem Neustart heran gezogen werden – obwohl sie mit dem Omen behaftet sind, dass ebensolche 100 Tage Napoleon in die Niederlage von Waterloo führten.

Wobei: Der Senat? Genau genommen wird vorrangig Franziska Giffey (SPD) das tun, die fast omnipräsente Regierungschefin, und eine aus ihrer Sicht erfolgreiche Bilanz ziehen. Äußern dürfen sich dann noch die beiden, die neben ihr vor den Journalisten sitzen sollen: ihre bislang weit weniger sichtbaren Stellvertreter Bettina Jarasch (Grüne) und Klaus Lederer (Linkspartei).

Die Bilanz hat allerdings einen Haken: Der seit Dezember amtierende rot-grün-rote Senat hat dafür nicht etwa wie der sagenhafte Herkules von missliebiger Seite schier unlösbare Auflagen aufgeladen bekommen. Nein, Berlins Landesregierung hat sich selbst jene 40 Punkte ausgesucht, die Giffey nun als erledigt oder auf den Weg gebracht präsentieren wird. Das passierte bei der Klausurtagung des Senats Anfang Januar, und darunter sind auch ein paar Selbstverständlichkeiten: etwa, die Coronalage zu bewerten und Strukturen anzupassen. Oder den seit Jahresbeginn überfälligen Haushaltsplan 2022/23 vorzulegen, für den es schon im Sommer einen Entwurf gab.

Diese 40 Punkte sind also erledigt – nicht aber, was sich aus ihnen ergibt. Das gilt vor allem für den 32. Punkt auf dieser selbst verfassten To-do-Liste. Denn der heißt: „Expertenkommission Vergesellschaftung“. Was dahintersteht, könnte man in Zeiten, in denen martialische Vergleiche nicht sofort an den Krieg in der Ukraine erinnern, mit einer tickenden Zeitbombe vergleichen. Am Dienstag dieser Woche eingesetzt, in seiner Besetzung von der taz schon eine Woche zuvor exklusiv öffentlich gemacht, soll dieses Gremium den Senat befähigen, die Umsetzung des Enteignungs-Volksentscheids vom September zu klären.

Nach Plan wird die Kommission ein Jahr lang tagen und dann eine Empfehlung abgeben, auf deren Basis der Senat entscheidet. Schon die jetzige Stimmung in der auf Enteignung festgelegten Linkspartei spricht dafür, dass ein anders lautender Beschluss das Ende der Koalition wäre. Die Alternativen: aussteigen oder weiterregieren und vielen Anhängern fortan als Verräter gelten – die Partei hatte den Volksentscheid in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs gestellt.

Wie auf Bundesebene für das nur 14 Tage länger regierende Ampelbündnis hatte auch für die Berliner Koalition alles anders kommen sollen: eine auslaufende Coronapandemie begleiten, Druck bei der Mobiltätswende machen, beim Wohnungsbau schneller und einiger sein als der vorige Senat. Gerade die Grünen mit Verkehrssenatorin Bettina Jarasch hatten sich viel vorgenommen.

Doch wie damit durchdringen, wenn erst in nie gehabte Höhe steigende Inzidenzen und nun Ukrainekrieg und Flüchtlinge die Schlagzeilen bestimmen? Wie argumentieren, dass nächster Generationen wegen Umdenken, mehr Klimaschutz und vielleicht auch Verzicht nötig sind, wenn sich Menschen fragen, ob es angesichts nuklearer Bedrohung überhaupt eine Zukunft gibt? Jarasch schafft es bei allem Bemühen nur vereinzelt, mit ihren Themen durchzudringen, aktuell dank des auf Bundesebene beschlossenen 9-Euro-Tickets und neuer Rad- und Busspuren.

Giffey dominiert alles, vertritt den Senat anders als ihr Vorgänger und Parteifreund Michael Müller in jeder Pressekonferenz nach den Senatssitzungen. In der jüngsten Meinungsumfrage vorige Woche, erst der zweiten nach der Abgeordnetenhauswahl, hat sich das allerdings nicht ausgezahlt: Ihre SPD liegt hinter den Grünen, gleichauf mit der CDU.

Senatsscheidungen erklärt Giffey ausführlich und alltagsnah. Aber nicht immer ist das, was sie dabei sagt, auch fundiert. Zu Jahresbeginn machte sie in migrantischen Communities noch Impfpotenzial aus, kündigte eine Motivationskampagne an und setzte sich eine Messlatte, die nicht im 100-Tage-Programm steht: die Impfquote bis Ende Januar von 75,3 auf 80 Prozent zu bringen.

Daraus wurde nichts: Noch in dieser letzten Märzwoche liegt die Impfquote erst bei 77 Prozent. Giffey aber spricht währenddessen durchaus schon mal von 80 Prozent – sie hat dann einfach die Berechnungsgrundlage verändert und jüngere ungeimpfte Kinder außen vor gelassen. In einer jener Pressekonferenzen meinte sie zudem auf eine Nachfrage, mit den Coronaregeln würden am 1. April auch Isolation und Quarantäne abgeschafft – immerhin verbunden mit dem Nachsatz, ihre Sprecherin würde das nochmal prüfen. Die meldete sich auch einen Tag später und revidierte. Einen großen Nachhall hatte keines von beidem.

Die souveräne Neue

Die Dominanz der Chefin ist auch daran abzulesen, wie sehr oder wie wenig andere Regierungsmitglieder in Erscheinung treten. Bis Mitte Februar saß regelmäßig Gesundheitssenatorin Ulrike Gote neben Giffey in den Pressekonferenzen nach den Senatssitzungen. Sie, die gerade aus Kassel Zugezogene, war plötzlich über Wochen das prominenteste Gesicht der Berliner Grünen, nicht etwa Vizeregierungschefin Jarasch – und hinterließ einen überraschend souveränen Eindruck, umso mehr, weil völlig neu in der hiesigen Landespolitik.

Mit Ausbruch des Krieges in der Ukraine wechselte die Nebenrolle: Seither ist Sozialsenatorin Katja Kipping von der Linkspartei regelmäßig neben Giffey zu sehen, und bis auf die kurzzeitige Unklarheit, dass Helfer Flüchtlingen eine Unterbringung nicht für zwei Jahre, sondern für sechs Monate bescheinigen müssen, scheint die Chemie zwischen diesen beiden zu stimmen. Überhaupt gibt es für das Krisenmanagement des Senats von den Hilfsinitiativen durchaus auch Lob, ganz anders als 2015.

Die ersten 100 Tage des neuen Senats sind an diesem Donnerstag also vorbei. Sie haben nicht in einem Waterloo geendet, nicht im Ende der Koalition. Aber wegen der Enteignungsfrage bleibt dieser Weg offen. Neuwahlen dürfte bei einer auch in einem Jahr mutmaßlich noch angespannten Stimmung keiner anstreben, die FDP stünde als Ersatz bereit. Dass Giffey und deren Fraktionschef Sebastian Czaja ganz gut miteinander könnten, zeigt sich wiederholt in frotzeligen Wortwechseln im Parlament, wo Giffey Czaja viel mehr wahrnimmt als den formellen Oppositionsführer von der CDU. Grüne und linke SPDler wären da weniger zugeneigt. Aber im Fall Waterloo bräuchten auch sie einen neuen Partner.

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