Grüne Spitzenkandidatin in Niedersachsen: „Das schüchtert mich nicht ein“

Julia Willie Hamburg (35) will die Grünen in Niedersachsen in den Wahlkampf führen – auch wenn die Weltlage die Aufbruchstimmung ausbremst.

Die beiden Spitzenkandidaten der Grünen in Niedersachsen Julia Willie Hamburg und Christian Meyer bei der Präsentation ihrer Wahlkampagne

Wollen versuchen, die Sozis zum Jagen zu tragen: Julia Willie Hamburg und ihr Vize Christian Meyer Foto: Ole Spata/dpa

Frau Hamburg, warum wollen Sie nicht Ministerpräsidentin werden? Gibt es bei Ihnen einen Baerbock-Effekt?

Julia Hamburg: Eigentlich haben wir uns schlicht die Umfragen angeschaut und gesehen, dass wir zwar sehr zugelegt haben, aber noch ein ganzes Stück von der SPD entfernt sind. Da haben wir uns ganz nüchtern und realistisch gesagt, dass wir dieses Mal kei­ne*n Kan­di­da­t*in für die Ministerpräsidentschaft aufstellen müssen. Das hat wenig mit Annalena Baerbock und viel mit der Situation in Niedersachsen zu tun. Die Grünen in Schleswig-Holstein haben sich anders entschieden.

Trotzdem muss sich diese Wahlkampferfahrung aus Ihrer Perspektive ja ganz anders angefühlt haben. Wie haben Sie das erlebt?

Es ist definitiv so, dass man da gesehen hat, wie man mit Frauen, vor allem auch jüngeren Frauen, in der Politik umgeht. Gerade wenn sie nach Verantwortung streben. Das hat mich nicht überrascht, aber auch nicht unberührt gelassen. Also die Wucht, mit der da jeder Fehler bewertet wurde und die Art und Weise, wie man ihr Äußeres, ihr Geschlecht und ihre Kompetenz immer zusammen diskutiert hat, das fand ich schon negativ beeindruckend. Aber das schüchtert mich nicht ein.

Was hat Sie denn motiviert, in die Politik zu gehen?

Für mich war ein Schlüsselmoment, als Gerhard Schröder als Kanzler 2005 die Vertrauensfrage gestellt hat. Das war der Punkt, wo ich gesagt habe: Ich gehe jetzt in eine Partei und engagiere mich. Weil ich einfach nicht wollte, dass dieser gesellschaftliche Aufbruch, dieses rot-grüne Projekt einfach so zu Ende geht. Ich wollte für progressive Mehrheiten kämpfen. Ich hatte dann auch relativ schnell kleine Erfolgsmomente – wenn es einem gelingt, auf einem Parteitag oder später auch im Landtag Veränderungen durchzuboxen, das ist schon schön.

Ihr Lebenslauf sieht erst einmal nach glattem Durchmarsch aus: Sprecherin der Grünen Jugend, Landeschefin und Landtagsabgeordnete mit 27 Jahren – zack, zack, zack. Aber dann gab es eine fiese Vollbremsung: Sie litten nach der Geburt Ihres zweiten Kindes an einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit. Was hat das verändert?

Das war auf jeden Fall ein sehr harter Einschnitt. Ich bin seither viel demütiger und gewichte Dinge ganz anders. Früher habe ich mich sehr schnell über Dinge aufgeregt. Heute weiß ich, dass es das oft nicht wert ist. Und dass man nicht alles planen kann.

Sie sind damit relativ offen umgegangen. War das von vornherein so klar oder haben Sie lange mit sich gerungen?

Als Person der Öffentlichkeit hat man keine große Wahl. Ich wurde krank und drei Tage später stand es groß in allen Zeitungen. Damit muss man umgehen. Ich habe das aber auch gemacht, weil die Krankheit – Peripartale Kardiomyopathie (PPCM) – relativ unbekannt ist. Auch meine Ärzte haben die Beschwerden anfangs nicht so ernst genommen.

Wie sehen Sie die Entwicklung Ihrer Partei? Vom rot-grünen Projekt in die Opposition und zurück?

Wir haben sehr heftige Richtungsentscheidungen in der Partei gehabt, gerade nach dieser ersten rot-grünen Phase auf Bundesebene. Ich habe das sehr intensiv miterlebt, die ganzen Flügelkämpfe. Das war eine sehr fordernde Zeit, manchmal brutal, aber auch sehr produktiv. Ich glaube, dass wir jetzt in einer Phase von großer Geschlossenheit und Stärke sind und damit im Vorteil gegenüber Parteien, die jetzt ihrerseits durch so einen Findungsprozess durch müssen – wie etwa die CDU.

Befürchten Sie nicht, dass so etwas wieder aufbricht, wenn es jetzt eine weltpolitische Lage gibt, die so viele grüne Gewissheiten – etwa in der Energie- und Friedenspolitik – wieder in Frage stellt?

Erst einmal sind wir natürlich alle extrem erschüttert. Das ist eine sehr belastende Situation, und auch eine, für die wir alle keine Blaupause haben. Das könnte vielleicht zu einer Zerreißprobe werden. Mein Eindruck ist aber eher, dass wir die jetzt wichtigen Themen teilweise vorher schon erkannt und benannt haben. Schauen Sie sich an, wie Annalena Baer­bock im Wahlkampf deutlich gemacht hat, welche Energiepolitik und welche Außenpolitik wir eigentlich brauchen. Robert Habeck arbeitet an der Beschleunigung der Energiewende, die uns ja nicht nur von Putin, sondern auch von anderen Autokraten unabhängiger machen soll. Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland jetzt die Kraft haben, auf zukunftsweisende Lösungen zu setzen und nicht jeden energiepolitischen Irrweg noch einmal von vorne diskutieren.

Für den Landtagswahlkampf haben Sie mit dem Slogan „Bock auf besser“ voll auf Aufbruchsstimmung gesetzt. Jetzt taumeln wir gerade von der Pandemiemüdigkeit in die Kriegsangst. Wie soll das noch verfangen?

Wir haben das natürlich vor einem ganz anderen Hintergrund angelegt, weil wir gemerkt haben, dass CDU und SPD hier eine sehr bräsige Politikverwaltung betreiben und sich konsequent weigern, die Zukunftsfragen anzupacken. Es gibt schon eine große Unzufriedenheit, wenn man im Lande mal ein bisschen an der Oberfläche kratzt. Natürlich sind wir mit dem Krieg in der Ukraine in einer anderen Situation. Trotzdem müssen wir Veränderungen vorantreiben, weil nur diese Veränderungen Sicherheit schaffen und uns resilient machen.

Vor dem Krieg klaffte die Bereitschaft zur Veränderung ja aber auch schon auseinander: Auf der einen Seite junge Klimaaktivisten, die langsam die Geduld verlieren, auf der anderen Seite Leute, denen alles zu viel ist und die Angst bekommen, wenn man Sternchen in Wörter macht. Wie wollen Sie das zusammenhalten?

Wir sind ja seit eh und je eine Bündnis-Partei. Das heißt, diesen Spagat auszuhalten, unterschiedliche Interessen miteinander aushandeln – das liegt praktisch in unserer Natur. Das ist eine unserer ganz großen Stärken. Natürlich ist es für die junge Generation jetzt super wichtig, Druck zu machen. Sie haben ja Recht, wenn sie sagen, dass wir für das 1,5 Grad-Ziel nicht mehr genug Zeit haben – und es geht um ihre Zukunft. Unsere Aufgabe ist es, diese zu sichern. Deshalb müssen wir den Druck aushalten und im Gespräch bleiben, auch wenn es Enttäuschungen gibt. Wir wollen ein Investitionsjahrzehnt in einer Größenordnung auf den Weg bringen, wie es Niedersachsen lange nicht gesehen hat.

Der andere Gegensatz, mit dem Grüne in Niedersachsen immer zu kämpfen haben, ist das Stadt-Land-Gefälle. Welche Strategien haben Sie da?

Wir haben in den letzten Jahren mit unseren Initiativen im Landtag sehr, sehr deutlich gemacht, dass wir auch und gerade eine Partei der ländlichen Räume sind. Interessanterweise gucken die Grünen in anderen Bundesländern interessiert nach Niedersachsen, weil wir im letzten Jahr hier auf dem Land überproportional gewachsen sind. Das hat etwas damit zu tun, dass wir auch genau da auf den Lückenschluss setzen. Niedersachsen muss als Flächenland endlich investieren – in den Mobilitätswandel, die Energiewende, die Digitalisierung. Mit meinem Kollegen Christian Meyer haben wir auch einen Spitzenkandidaten, der selbst sehr ländlich lebt und genau das verkörpert.

Ist das Ihre Arbeitsteilung? Der ehemalige Landwirtschaftsminister kümmert sich um die Dörfer und die Bauern, Sie ums urbane Bildungsbürgertum?

Na ja, man muss halt gucken, wo man sich gut ergänzt. Ich komme aus Hannover und befasse mich seit Jahren mit Sozial-, Bildungs- und Innenpolitik. Christian war Landwirtschaftsminister, kommt aus der Umweltbewegung, kämpft seit Jahrzehnten für Naturschutz und Artenvielfalt und hat da eine sehr starke Expertise.

Gilt das auch für Temperament und Ansprache? Christian Meyer gilt als notorischer Schnellsprecher mit Hang zur Polemik. Sind Sie dafür die Stimme des Ausgleichs?

(lacht) Ja, vielleicht bringt er da etwas mit, was ich nicht so habe. Wobei wir beide schon durchaus schlagkräftige Persönlichkeiten sind – jeder auf seine Art. Also wir können beide mal auf den Tisch hauen, aber auch Einigungen mit anderen politischen Kräften erzielen.

Und der Plan ist, sich darauf zu konzentrieren, die Sozialdemokraten zum Jagen zu tragen?

Nein, natürlich ist unser Anspruch, erst einmal selbst möglichst stark zu werden, damit wir auf Augenhöhe verhandeln und grüne Inhalte durchsetzen können. Wir führen einen eigenständigen Wahlkampf. Dabei treibt uns auch das Thema Familien, Kinder und Jugendliche sehr um. Wir haben in den letzten zwei Jahren gesehen, wie oft Politik die aus dem Blick verloren hat – genauso wie den sozialen Ausgleich. Wir setzen darauf, dass wir als Grüne die besseren Antworten haben und die richtigen Prioritäten setzen.

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