Sportwelt und Weltpolitik: Das Zeitalter der Haltung

Sport­le­r:in­nen müssen für das Gute einstehen: gegen Krieg, für Menschenrechte. Nur: Ändert das den Sport überhaupt?

Ein schawarzer Helm bedeckt einen Menschen vor einer Schneekulisse

Die großen Sportverbände sind keine Schiedsrichter:innen: Volunteer in Peking ohne Gesicht Foto: Sebastian Wells

Die These von der Zeitenwende ist dieser Tage inflationär in den Sprachgebrauch gesickert. Ein eitler Begriff, der aus jeder Veränderung eine schillernde These macht, ein zutiefst geschichtsfeindlicher auch, der Entwicklung nur als harten Bruch kennt. Und der Sport? Eine Zeitenwende scheint auch der Ausschluss Russlands. Aber vielleicht ist er eher die logische Fortsetzung einer Epoche. Nennen wir sie: das Zeitalter der Haltung.

Es ist derzeit leichter, aufzuzählen, in welchen Sportarten Rus­s:in­nen und Be­la­rus­s:in­nen international noch antreten dürfen (etwa Tennis), als von welchen Sportarten sie ausgeschlossen wurden (von beinah allen anderen). In der deutschen Öffentlichkeit wird dieser epochale Ausschluss einer der größten Sportnationen der Welt wenig debattiert. Zwischen Nachrichten von ermordeten ukrainischen Zi­vi­lis­t:in­nen und russischen Atomdrohungen liegt die Aufmerksamkeit nachvollziehbar nicht auf Eishockey. Allenfalls wird bekräftigt: „vorbildlich“, „mutig“, oder oft auch: viel zu spät, zu zaudernd, zu wenig Haltung.

Viel Mut allerdings gehört aktuell wirklich nicht dazu, russische Sport­le­r:in­nen zu sanktionieren. Im Gegenteil, die Boykottdrohungen haben dem organisierten Sport kaum eine Wahl gelassen. Aber ist die Sanktion überhaupt, wie es oft heißt, richtig, vorbildlich, gut?

Zunächst ist ein Sportboykott gegen einen kriegstreibenden autokratischen Staat moralisch sehr gut zu begründen. Einen Aggressor auszuschließen und ihm die Bühne zu nehmen, ist ethisch und taktisch recht unzweifelhaft. Und doch ist es auch verdächtig, dass das gerade jetzt geschieht.

In den vergangenen siebzig Jahren hat es unzählige völkerrechtswidrige Kriege gegeben. Es ist nicht einmal nötig, die von Putin-Freund:innen gern genannten US-Invasionen zu zitieren, um zu wissen: Sportpolitisch belangt wird dafür niemand. Außer denen, die sich nicht wehren können. Während des Irakkriegs wurde 2008 ironischerweise der Irak von Olympia ausgeschlossen. Und 1964, während des Vietnamkriegs, Nordvietnam.

Die großen Sportverbände sind keine Schiedsrichter:innen. Sie sind Instrumente westlichen Machterhalts, auch, wenn ihre Spitzen heterogener werden. Sie sind zutiefst parteiisch. Das IOC begründet seinen aktuellen Ausschluss mit dem Bruch des olympischen Friedens, aber es dürfte eher dankbar für diese Steilvorlage sein. Wer auf öffentlichen Druck nicht teilhaben sollte, dafür fand sich schon immer irgendein Grund. Oft waren Schuldfragen keinesfalls eindeutig beantwortet.

Als gerechte Sportboykotte aus Sicht der Spätgeborenen gelten der Ausschluss Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und der jahrzehntelange, sehr wirksame Boykott von Apartheid-Südafrika auf Druck der unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten. Die segregierten USA oder die sogenannten Kolonialmächte dagegen wurden sportlich nie bestraft. Boykotte sind Ausdruck von Macht, nicht von Recht.

Das Richtige aus falschen Gründen

Es ist naiv, wer annimmt, hier ginge es um Moral. Keine menschenrechtsbewusste Öffentlichkeit konnte je Gazprom vertreiben, und es wurde versucht. Antirussisches Kriegspathos konnte es. Ideale sind nur Glasur. Im Herzen geht es um Macht. Ein europäischer, weißer Staat wurde angegriffen, eine Ordnung ist bedroht. Und auch „wir“ bekommen in diesem Krieg nur eine Seite der Information, darüber sollte sich niemand Illusionen machen.

Die öffentlich bis heute kaum beachteten neokolonialen Kriege der französischen Armee in Nordafrika wiederum, der saudische Krieg im Jemen, der chinesische Massenmord an den Uigur:innen, die russischen Invasionen in Georgien oder der Ostukraine waren nie einen Ausschluss wert. Und wer dank Macht über die richtigen Verträge verfügt oder unliebsame Staatsführer wegputschen lässt, muss nicht einmal schießen, um zu herrschen. Wahrscheinlich ist „Krieg“ nicht einmal das sinnvollste Ausschlusskriterium.

Das macht Sanktionen nicht falsch oder unnütz. Die Russland-Sanktionen könnten sich als sehr wertvolles Instrument erweisen, diesen Krieg zu beenden und die Stellung Wladimir Putins zu gefährden. Man kann aus den falschen Gründen das Richtige tun. Aber die falschen Gründe sind eine schwere Hypothek. Was, wenn das nächste Mal ein Staat einen Angriffskrieg startet? Ist das dem Sport dann egal? Was, wenn die Ukraine Putins Vietnam wird oder Russland den Staat dauerhaft besetzt? Können und sollen russische Ath­le­t:in­nen dann zehn, zwanzig, fünfzig Jahre aus dem Weltsport ausgeschlossen sein? Was macht das mit dem russischen und mit dem internationalen Sport?

Über Letzteres wird in Russland gerade intensiv diskutiert. Nach außen gibt die russische Diktatur sich drohend: Dimitri Swischschew, Vorsitzender des Sportkomitees der Duma, erklärte gegenüber der Moskauer Onlinezeitung Lenta.ru: „Russland ist einer der größten Treiber internationaler Sportentwicklung. Russland ist mit 150 Millionen Menschen der größte Markt für die Sportindustrie.“

Tenor: Der Weltsport werde so in Mitleidenschaft gezogen, dass er bald einknicke. Die Inkonsequenz rund ums Doping ist auch in Russland in Erinnerung geblieben. Solange aber das öffentliche Bedrohungsgefühl durch den Krieg so hoch ist, ist die Lage eine völlig andere. Zu sehr stehen die Verbände unter Druck. Konterkariert wurde die Machtdemonstration dann auch unfreiwillig durch die eigene Athletenvereinigung RSS, die, welche Wortwahl, von einem „Genozid“ an russischen und belarussischen Sport­le­r:in­nen sprach.

Für einen nüchterneren Blick ist eine Analyse von Wladimir Mosgowoi in der unabhängigen Nowaja Gaseta hilfreich. Mosgowoi, der den Ausschluss befürwortet, schreibt: Rus­s:in­nen und Be­la­rus­s:in­nen könnten so viele Turniere gemeinsam abhalten, wie sie wollten. Stars würden erst Stars, weil sie sich mit der Welt messen. Eine Invasion kurz vor den Paralympics zeige klar, was Russland wirklich von seinen Sport­helden halte. Und ein Kulturwandel hin zu Massensport?

„Ich glaube nicht an das schöne Bild von Sportschulen in jedem Viertel und Rent­ne­r:in­nen auf den besten Plätzen des Landes.“ Wenn der Leistungsport in Russland verschwände, entstehe ein Vakuum. Eines, das auch die Legitimität des Weltsports berührt. Denn ein Wettkampf, bei dem viele der Besten nicht dabei sind, ist keine Bestenermittlung. Russland auszuschließen, ist nicht dasselbe wie ein Ausschluss des Irak.

Und das Vertrackte ist: Je ernster man es meint mit Menschenrechten, desto schwerer wird es mit einem legitimen Kampf der Besten. Desto eher auch drohen Blockbildungen. Boykotte waren immer dort am wirksamsten, wo die überwältigende Mehrheit langfristig einen Staat ausschloss. Schon ein gleichzeitiger Ausschluss etwa von Russland und China birgt sofort das Risiko neuer, paralleler Strukturen. Und wer bestimmt, was illegitim ist? Reichtum, Verschulden der Klimakatastrophe, rassistische Abschottung, auch das kann man sanktionieren. Dann wären wir dran.

„Haltung zeigen!“ Ob's wirkt, ist egal

Bewegt sich also der Sport in eine neue Phase des Isolatio­nismus? Manches spricht dafür. Nicht, weil Ausschlüsse neu wären. Sondern aufgrund eines Kulturwandels. „Die Zeit der Annäherung durch Wirtschaft ist vorbei. Es wird Zeit für Haltung“ – diese derzeit populäre These findet sich seit auch im Sport. Und wie so oft in der Geschichte entsteht in der Öffentlichkeit daraus die Forderung nach dem Gegenteil. Ein Zeitalter der Haltung.

Verstärkt wird das durch Social Media. Spie­le­r:in­nen müssen „Haltung zeigen“, ob sie klug oder differenziert ist, ist dabei relativ egal. Verbände sollen „Haltung zeigen“, ob diese Haltung mehr bewirkt als Diplomatie, ist relativ egal. Es ist eine ähnliche Dynamik wie rund um die Männer-Fußball WM in Katar. Eine der beliebtesten Fragen ist: „Wie können Sie es verantworten, da und dort hinzugehen?“ Der Fokus liegt interessanterweise auf der sich äußernden Person: Charakterprüfung statt einer differenzierten Debatte über Folgen.

Dabei zeigt die wechselhafte Geschichte der Ausschlüsse: Ob sie wirkten oder nicht, was sie verursachten und ob sie gerecht waren, hängt sehr vom Einzelfall ab. Nordkorea oder das sozia­listische Albanien zeigen, dass Isolation auch desaströs wirken kann. Sie kann die Gesellschaft passiv und wehrlos, erst recht in den Händen eines Diktators zurücklassen. Haltung und Wirkung sind nämlich nicht ganz dasselbe. Unerlässlich ist also, sich wirklich für die Situation zu interessieren.

Man könnte ja mal fragen, was oppositionelle Rus­s:in­nen und Be­la­rus­s:in­nen eigentlich vorschlagen. Und dabei das blühende Vertrauen in den eigenen Nationalstaat ablegen: Auch dem geht es um Macht, Herrschaft und Propaganda. Wirklicher Wandel durch Annäherung funktioniert nur durch eine oppositionelle Zivilgesellschaft – oppositionell auf beiden Seiten.

Russland ausschließen? Vielleicht ist das in der aktuellen Notlage eine gute Idee. Entpolitisieren lässt sich der Sport ohnehin nicht. Aber es muss nun die Diskussion folgen, die es nie gab. Es braucht eine Charta des Sports. Eine, die abwägt zwischen dem Primat der Teilhabe aller, nämlich dem schützenswerten Recht von Sport­le­r:in­nen auf Berufsausübung, und Situationen, wo sie wirklich nicht zu verantworten ist. Ausschlüsse dürfen nicht auf der Macht des Westens basieren, sondern müssen transparenten Kriterien folgen.

Vielleicht ja wirklich dies: keinen Krieg. Net voyny. Und wer auch immer dagegen verstößt, ist nicht mehr dabei. Es wäre ein pazifistischer Sport mit allen Stärken und Schwächen. Und einer, dessen teilnehmende Staaten ihr Geld aus Militärbudgets sinnvoller investierten. Vielleicht sogar in Sportanlagen für Rentner:innen. Im Zeitalter der Haltung darf man ja wohl noch träumen.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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