Regisseur über Westen im Ukrainekrieg: „Das ist absolut diabolisch“

Der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa fordert eine Beteiligung des Westens am Ukraine-Krieg. Dieser habe Russland zu lange tatenlos zugesehen.

Jugendliche machen ein Selfie mit einem müde aussehenden Mann, der in eine ukrainische Flagge gewickelt ist

Demütigung eines ukrai­nischen Menschen: Szene aus Sergei Loznitsas Spielfilm „Donbass“ Foto: Salzgeber

taz.am wochenende: Herr Loz­nitsa, wir kennen Sie als Profi, der recherchiert, denkt und plant, bevor er spricht und filmt. Wie lautet Ihre Antwort auf jene Frage, die in der Vergangenheit schon oft – auch von berühmten russischsprachigen Köpfen – gestellt wurde: „Was tun?“

Sergei Loznitsa: Die Frage muss heißen, was soll Deutschland tun. Es sollte sich daran erinnern, dass es geteilt war und dass wir es mit einem „Historiker“ zu tun haben, der sich daran vielleicht ebenfalls erinnert, der Sehnsucht nach seinem ehemaligen Dienstort haben könnte, den er, Putin, deshalb als seine Heimat zurückhaben will. Genauso wie er die Ukraine in die Heimat zurückholen will. Deutschland sollte also jetzt ernsthaft teilnehmen. Wie übrigens alle Länder.

Das heißt?

Anzuerkennen, dass das ein Krieg ist, der der gesamten zivilisierten Menschheit erklärt wurde. Teilnehmen, nicht so tun, als ginge es nur um die Ukraine, und irgendwie Angst haben vor einer Nato-Beteiligung. Wenn das nicht geschieht, werden sie die Ukrai­ne zerstören, dann Polen, dann Deutschland. Diese Angst ist mittlerweile überhaupt nicht mehr produktiv. Ein Atomangriff, vor dem alle Angst haben, ist Teil der Situation selbst, Teil der Mentalität des Putin’schen Re­gimes, das auf diesen Atomkrieg ausgerichtet ist. Dazu muss man sich ernsthaft positionieren und alles tun, damit die Folgen weniger zerstörerisch sind. Dazustehen, zu sitzen, zu warten, bis die Ukraine erdrückt wird, ist einfach unmoralisch. Das ist un-mo-ra-lisch. Der Luftraum muss geschlossen werden, das ist das Minimum. Hätten die Raketen den Reaktor der Saporischschjaer Atomstation in Enerhodar getroffen, was leicht möglich war, würde Deutschland mit seiner Ausrüstung ruhig weiter dasitzen, allerdings im Atomstaub. Man muss das ernst nehmen. Man muss Putin dabei stoppen. Ende.

Was könnte denn konkret unsere Aufgabe sein?

Der Regisseur wurde 1964 geboren und wuchs in Kiew auf. Er studierte Angewandte Mathematik, arbeitete in Kiew am Institut für Kybernetik zu Künstlicher Intelligenz. 1991 zog er nach Moskau und studierte Regie. Seit 2001 wohnt er mit seiner Familie überwiegend in Deutschland. Loznitsa hat über 20 Dokumentar­filme gedreht, darunter „Maidan“ (2014) über die ukrainische Revolution, „State Funeral“ (2019) aus Archivmaterial vom Begräbnis Stalins und „Babyn Jar. Kontext“ (2021). Sein vierter Spielfilm „Donbass“ von 2018 läuft aktuell wieder im Kino.

Von der Regierung zu verlangen, dass sie handelt. Dieser Krieg in der Ukraine ist ein Thema, das den Schutz und die Sicherheit der deutschen Bürger betrifft. Ich wiederhole: Wenn plötzlich Tschernobyl oder das Kraftwerk in Saporischschja explodiert, werden alle mit Zirkonium und Alphateilchen bedeckt. Jeder wird von dieser nuklearen Ladung betroffen sein, niemand wird gerettet werden. Daher muss die Möglichkeit geschaffen werden, den Himmel über der Ukraine zumindest zu schließen.

Hierzulande wird umgekehrt argumentiert. Ein Nato-Eingriff würde die Atomkriegsgefahr vergrößern. Was bisher geschah, wird ja bereits als „Zeitenwende“ bezeichnet.

Wir bekommen die kolossale Trägheit des menschlichen Geistes nicht in den Griff. Allzu oft sehen wir, dass insbesondere europäische Politiker immer zu spät kommen. Die erst unter Druck erfolgten deutschen Rüstungslieferungen, die Verweigerung jeglicher Hilfe für die Ukraine über lange Zeit, auch in Frankreich. Nur in den Ländern, in denen man sehr gut weiß, wozu das alles führt, sind alle aktiv: In Litauen, Lettland, Estland und Polen. Diese Trägheit ist unüberwindbar. Wir können noch so oft darüber diskutieren. Jetzt wird zum Beispiel mein Film „Donbass“ gezeigt. Ich habe ihn 2018 gedreht, als Warnung. Der Film wurde nur wenig in Deutschland gezeigt, lief nur kurz im Kino, niemanden kümmert er.

Wir haben damals immerhin in dieser Zeitung über „Donbass“ gesprochen.

Ja, ich habe meinen Job gemacht, aber die Menschen verstehen die Warnung nicht. Jetzt wollen alle den Film zeigen. Okay, lass uns einen zweiten Kinostart unternehmen, vielleicht lernt jemand daraus etwas. Aber es ist längst zu spät. Warum wurde Schröders Parteiausschluss erst jetzt gefordert? Ein Gasprom-Funktionär! Putins Regime hat sein Gesicht in keiner Weise verändert. Tschetschenien, Georgien, die Krim. Alle haben geschwiegen. Erst jetzt zeigt sich der Westen betroffen. Dieses unmoralische Verhalten hat Putin erst ermutigt. 2008 hat er sein Ziel deutlich formuliert. Die Politiker sind verantwortlich für das, was jetzt passiert. Jetzt sind sie moralisch verpflichtet, sich am Krieg zu beteiligen, denn dank ihrer Bemühungen hat sich Russland von seinen Knien erhoben und bewaffnet, und jetzt zeigt es ihnen seine Faust. Bald wird es ihnen auf den Kopf fallen.

Haben wir uns alle schuldig gemacht?

Wer ist „wir“? Ich habe immer wieder gesagt, was alles passieren kann und wie gefährlich es ist. Angefangen bei den Anschlägen auf die Wohnhäuser in Moskau vor nunmehr zwanzig Jahren. Immer dieselbe Rhetorik. Alle meine Filme handeln davon. Ich habe immer versucht, das Wesen dieses „kulturellen Raums“ darzustellen und zu zeigen, wohin es führt.

Müssen wir alle Verbindungen kappen – auch die russische Kultur komplett boykottieren?

Ich habe gehört, dass irgendwo Konzerte von Schostakowitsch, Rachmaninow, Glinka abgesagt werden. Seid ihr verrückt? Was hat Schostakowitsch damit zu tun? Lasst euch nicht verrückt machen. Lest Remarques „Die Nacht von Lissabon“, die Erfahrungen eines anständigen Deutschen, der ins „Dritte Reich“ geraten ist, ein Flüchtling beim Versuch, rauszukommen aus diesem Europa. Hier erfährt man etwas über den Zustand der Menschen. Keiner hat die Bücher Thomas Manns verbrannt. Was hat der Pass, die Nationalität damit zu tun? Es gibt nur den Menschen. Nicht die Kultur ist im Krieg, sondern der Staat. Auch dort gibt es anständige Menschen, sie sind Opfer dieser Umstände. Wie wir alle.

Wie entscheidet man, wer anständig ist?

Der Dirigent Gergijew ist ein Freund Putins, er unterstützt dieses Regime. Oder Netrebko, die mehrmals zur Unterstützung der Besetzung der Krim aufgetreten ist. Was hat das mit, sagen wir, Kira Kowalenkos ausgezeichnetem Film „Unclenching the Fists“ zu tun?

Für den Kulturbetrieb, Filmfestivals zum Beispiel, sind das im Moment wichtige Fragen, die nicht immer leicht zu entscheiden sind. Rus­s*in­nen, die offen gegen den Krieg eintreten, droht Putin ja sogar damit, sie als Nächste an die Front zu schicken.

Wir können von den Menschen nicht verlangen, dass sie Helden sind. Jeder Mensch hat seine eigenen Qualitäten und Grenzen, die Grenzen seiner Fähigkeiten. Behandelt sie so, wie es euer Herz euch nahelegt. Ein Andrei Swja­gin­zew hat sich nach schwerer Krankheit wieder aufgerappelt, und als er endlich wieder stehen konnte, hat er das Wort gegen diesen Krieg ergriffen. Für mich gilt: Auch unter schrecklichen, unmenschlichen Bedingungen muss man ein Mensch bleiben. Delegationen streichen, aber die Filme anständiger Leute zeigen – so wie Cannes und Venedig das angekündigt haben, das unterstütze ich.

Wie beurteilen Sie allgemein die russischen Reaktionen auf den Krieg gegen die Ukraine?

Wer immer noch mit solchen zusammenarbeitet, die die Aggression unterstützen, sollte gehen. Man braucht dafür weniger Mut, als in Charkiw oder Kiew zu leben, wo Bomben auf die Köpfe der Menschen fallen. Insgesamt erstaunt es mich, dass Russland nicht zu Millionen-Kundgebungen fähig war, die den Krieg hätten verhindern können. Die Zehntausenden, die immer noch auf die Straße gehen, genügen nicht. Für die sogenannte Zombifizierung der Mehrheit sind die Menschen selbst verantwortlich, nicht die Singvögel der Propaganda wie Wladimir Solowjew. Jeder Einzelne ist verantwortlich, dass sie so amoralisch sind, dass sie jede militärische Aktion gegen ein friedliches Land, gegen Zivilisten und generell jede militärische Aktion rechtfertigen können. Das ist in der Tat schrecklich. Absolut diabolisch.

Hat Putin „Die Dämonen“ gelesen?

Das braucht er nicht. Er ist der Held des ganzen Geschehens. Als er den Nationalen Sicherheitsrat einberief und alle zitterten: Das ist einfach unglaublich, ein einstündiger, fertiger Film. Man braucht nur noch den Vorspann hinzuzufügen. Diesen Film kann ich jedem empfehlen.

Wovon handelt er?

Die Essenz des Dramas? Putin versucht, alle mit Blut zu beschmieren. Und er will öffentlich, dass die gesamte Führungsspitze seiner Entscheidung zustimmt.

Warum sind Sie Ende Februar aus der Europäischen Filmakademie ausgetreten?

Die erste Stellungnahme der Akademie war blanker Euphemismus, verwendete Formeln der Putin’schen Rhetorik. „Eskalation“, „Spannungen“. Die künstlerische „Kreativität“ sei in Gefahr. Ein feiges, bürokratisches Statement. Regisseure sind mutige, wilde Menschen. Es bedarf einer gewissen Kühnheit, sonst hätte man einen anderen Beruf. Ich empfand das Statement als Kastration. Wir können uns nicht zurücklehnen. Wäre Pasolini (der 1975 ermordete italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini; d. R.) noch am Leben, hätte er die ganze Zeit ohne Unterbrechung darüber gesprochen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.