Georgien und der Krieg in der Ukraine: Wut und Empörung

Seit Tagen gehen Tausende in Tiflis aus Solidarität mit der Ukraine auf die Straße. Der russisch-georgische Krieg von 2008 ist wieder allgegenwärtig.

Ein Demonstrant schwenkt die blau-gelbe ukrainische Fahne vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis

Solidarität mit der Ukraine: Demonstration vor dem Parlament in Tiflis am Sonntagabend Foto: dpa

TIFLIS taz | Es scheint, als sei dieser Tage ganz Georgien auf den Beinen – auch am Sonntag wieder. Tausende sind ins Zentrum der Hauptstadt Tiflis gekommen, um ihre Solidarität mit der Ukraine zu bekunden. „ich will nicht zu dieser russischen Welt gehören, die Tod, Zerstörung und Leid über die Menschen bringt“, ruft eine Frau. Dann hält sie ihren russischen Pass in die Höhe und zündet ihn mit einem Feuerzeug an.

Am Samstagabend schallt Beethovens „Ode an die Freude“ aus großen Lautsprechern vor dem Parlamentsgebäude auf dem Rustaveli-Boulevard. Tausende Menschen sind hier zusammengekommen. Froh sind sie nicht, sondern empört. Auf Plakaten steht: „Russland tötet!“, „Stoppt Putin!“ und „Wir stehen zusammen.“ Viele Fahnen sind zu sehen – georgische, ukrainische und wieder georgische, die in den Farben blau und gelb eingefärbt sind.

„Das ist alles, was wir tun können. Aber seit meiner Kindheit glaube ich daran, dass, wenn die Menschen wirklich ein Ende des Krieges wollen, dieser auch aufhört“, sagt die 24-jährige Medizinstudentin Gwanza, die mit ein paar Freunden gekommen ist. Russlands Angriff auf die Ukraine sei auch ein Angriff auf Georgien, sagen sie.

Vor wenigen Tagen hat Georgiens Regierungschef Irakli Garibaschwili erklärt, dass sich Tiflis nicht an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland beteiligen werde. „Das würde vor allem unserem Land und unserer Bevölkerung schaden. Jetzt geht es um die nationalen Interessen Georgiens“, sagte er.

Forderung nach Sanktionen

Am gleichen Abend strahlten regierungstreue Fernsehsender ein Interview mit einem Experten aus. Der sagte: „Sanktionen werfen Georgien in die Zeit am Anfang der 90er Jahre zurück.“ Von dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war Georgien mehr als andere ehemalige Sowjetrepubliken betroffen. Das Bruttoinlandsprodukt sank um mehr als 60 Prozent.

Doch das alles ist den De­mons­tran­t*in­nen egal. Lautstark fordern sie, dass sich auch Georgien an den Sanktionen beteiligen müsse. „Wir sitzen auch so im Dreck“, sagt der 27-jährige Simon. „Georgien und die Ukraine sitzen in ein und demselben Dreck“, erregt er sich.

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine gehen die Menschen in Georgien auf die Straße. Genaue Daten darüber, wie viele Tausend De­mons­tran­t*in­nen sich im Zentrum von Tiflis einfinden, gibt es nicht. Doch Jour­na­lis­t*in­nen geben an, dass es in den vergangenen 20 Jahren keine politische Partei vermocht habe, so viele Menschen auf die Straßen zu bringen.

Dasselbe gilt auch für Proteste gegen Armut, Polizeigewalt oder andere Menschenrechtsverletzungen. Aber Russlands Krieg gegen die Ukraine sei eben ein persönliches Anliegen aller Georgier*innen, glauben Gwanza und ihre Kumpels.

40 Kilometer vor Tiflis

Das letzte Mal hatte es Proteste in dieser Größenordnung 2008 gegeben, während und nach dem Krieg zwischen Russland und Georgien um die Region Südossetien. Russische Truppen standen 40 Kilometer vor Tiflis. An der Seite der Ge­or­gie­r*in­nen stand auch der damalige ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko. Regierungschef Irakli Garibaschwili hat sich dafür entschieden, es Juschtschenko nicht gleichzutun.

„Meine Reise in die Ukraine brächte gar nichts. Unser Land zeigt Solidarität, so gut es kann. Wie Sie wissen, ist der ukrainische Luftraum gesperrt. Auch Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Staaten der Welt können jetzt nicht dorthin reisen“, sagte er. Einen Tag später kündigte Garibaschwili an, dass Tiflis die Ukraine mit einer Million Lari (umgerechnet etwas mehr als 250.000 Euro) unterstützen werde.

Gwanza ist mit der Politik von Nato und EU unzufrieden. „Die Verhängung von Sanktionen reicht nicht aus.“ Die beste Chance, Russland zu stoppen, hätten westliche Po­li­ti­ke­r*in­nen schon vor langer Zeit verspielt.

Auf dem Bukarester Nato-Gipfel am 3. April 2008 hatten Georgien und die Ukraine gehofft, über einen „Aktionsplan“ dem Nato-Beitritt einen Schritt näherzukommen. Doch es blieb bei der vagen Ankündigung, die beiden Staaten würden irgendwann einmal dazugehören.

Unerfüllter Traum

Doch der Wunsch, beschützt zu werden, blieb für die Ge­or­gie­r*in­nen ein unerfüllter Traum. Jüngsten Umfragen zufolge sind mehr als 70 Prozent der Befragten für einen Beitritt Georgiens zur Nato. „Putin wird seine Panzer nicht in einen Nato-Staat rollen lassen. Aber er wird in der Lage sein, das mit Georgien zu tun“, sagt der 28-jährige Marketingexperte Temuri, der zu der Kundgebung gekommen ist, aber trotzdem ein gewisses Maß an Verständnis für die Position der georgischen Regierung hat.

2008 verhängte die Europäische Union übrigens keine Sanktionen gegen Russland. Und das, obwohl Moskau die Unabhängigkeit von Südossetien anerkannt hatte, dessen Grenze sich stetig weiter in das Landesinnere von Georgien verschiebt. In der Frage von Sanktionen standen Frankreich, Deutschland und Italien nicht an der Seite Georgiens. Die EU jedoch gab damals rund vier Milliarden Euro an Hilfsgeldern für Georgien frei.

Eine junge Frau sammelt Spenden für Opfer des Krieges. Sie kommt aus der Ukraine, lebt aber schon ein halbes Jahr in Georgien. Das sei für sie wie eine Rückkehr in die zweite Heimat gewesen, sagt sie. 1994 waren ihre Eltern, die bis dahin in der Region Abchasien gelebt hatten, vor dem abchasisch-georgischen Krieg geflohen. Ihre Großeltern waren bei den Kampfhandlungen uns Leben gekommen.

Abchasien ist die zweite von Georgien abtrünnige Region, deren Unabhängigkeit Russland 2008 anerkannt hatte – genauso wie unlängst die Unabhängigkeit der beiden „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk in der Ostukraine.

Ukrainisch statt Russisch

„Das ist für mich ein persönliches Anliegen“, sagt die junge Frau. Während sie hier stehe, berichteten ihre Eltern und Freunde von Luftangriffen in der ukrainischen Kleinstadt Nikopol. Sie spricht Russisch, wechselt jetzt aber ins Englische. Auf die Frage „Warum?“ sagt sie nach kurzem Nachdenken: „Meine Mutter hat immer Russisch gesprochen. Doch gestern hat sie mich angerufen und gesagt: Jetzt gehe ich zum Ukrainischen über, damit niemand mehr unter dem Vorwand, die russischsprachige Bevölkerung zu verteidigen, Panzer in die Ukraine rollen lässt.“

Übrigens: Dutzende Wohnungseigentümer, die bei dem Service Airbnb registriert sind, wollen ein Zeichen setzen. Sie bieten Ukrainer*innen, die jetzt nicht in ihre Heimat zurückkehren können, kostenlose Unterkünfte an.

Aus dem Russischen Barbara Oertel

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