Nachruf auf Inge Deutschkron: Die Unbeugsame

Von den Nazis verfolgt, im Untergrund überlebt, niemals bequem: Die Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron ist mit 99 Jahren verstorben.

Portrait von Inge Deutschkron

Inge Deutschkron 2008 in ihrer Berliner Wohnung Foto: Anja Weber

„Du bist Jüdin. Du musst den anderen zeigen, dass du deshalb nicht geringer bist als sie.“ Inge Deutschkron war ein Kind, als sie diese Sätze von ihrer Mutter hörte. So ganz verstanden hat sie diese damals nicht. Aber Inge Deutschkron hat ihr ganzes Leben danach gestaltet. Am Mittwoch ist die Holocaust-Überlebende im Alter von 99 Jahren in Berlin verstorben.

Inge Deutschkron, stets perfekt gekleidet, frisiert und geschminkt, konnte berlinern und Witze reißen. Sie besaß aber auch die Gabe, ihre eigene Geschichte gegenüber einer Schulklasse so zu erzählen, dass man eine Stecknadel hätten fallen hören können. Und sie war unbequem, nahm kein Blatt vor dem Mund, wenn es um die Bekämpfung von Nazis und Neonazis ging. Sie hatte eine Mission.

Deutschkrons Autobiografie ihrer Verfolgung mit dem Titel „Ich trug den gelben Stern“ erschien 1978, zu einer Zeit also, als die NS-Geschichte einerseits durch die Anwesenheit der Täter in der Bundesrepublik noch allgegenwärtig war, andererseits die Auseinandersetzung mit der Schoah erst begann.

Mit dem Buch setzte die israelische Journalistin einen Meilenstein. Hier erzählte jemand nicht nur vom Leben einer jungen Jüdin im Berlin der Nazizeit. Deutschkron gedachte auch der wenigen nichtjüdischen Helfer, die sie und ihre Mutter in Verstecken verbargen. „Unbesungene Helden“ werden diese mutigen Menschen heute genannt. Deutschkron hat diesen Begriff geprägt, hat ein Museum und eine Stiftung initiiert, die die Erinnerung an die Judenretter bewahrt. Dazu ist sie vielen Leuten, die solche Art der Erinnerung für weniger wichtig hielten, gehörig auf die Nerven gegangen. Aber sie hat sich durchgesetzt.

Nach der Machtübernahme begann der Abstieg

Geboren wurde Inge Deutschkron 1922 im brandenburgischen Finsterwalde in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus. Man zog bald nach Berlin, der Vater arbeitete als Lehrer. Mit der jüdischen Religion hatte die Familie nicht viel zu tun.

Schon bald nach der Nazi-Machtübernahme begann der Abstieg: Der Vater verlor seine Stellung. Als Kind erfuhr Inge die sich immer mehr steigernden Diskriminierungen am eigenen Leib. Sie musste die öffentliche Schule verlassen, durfte nicht mehr auf den Sportplatz spielen. Bald war der Besuch von Parkanlagen verboten. Die Familie musste umziehen.

Nach der Pogromnacht 1938 entging der Vater mit knapper Not einer Verhaftung. Eigentlich habe er sich als pflichtbewusster preußischer Beamter der Gestapo stellen wollen, doch die Mutter verhinderte dies. Im Folgejahr gelang ihm die Emigration nach Großbritannien. Es war eine ausgemachte Sache, dass Mutter und Tochter folgen sollten. Doch mit dem Kriegsbeginn waren diese Pläne Makulatur.

So blieben Mutter und Tochter Gefangene der Nazis. Die Auswanderung wurde verboten, der Zwangsname „Sara“ eingeführt, ein „Judenstern“ war an der Kleidung zu tragen, Vermögenswerte abzugeben, der Schulbesuch untersagt. Ihre Lebensmittelkarten trugen ein großes „J“. Im Oktober 1941 begannen die Deportationen aus Berlin in den Osten.

Symbol der Ausgrenzung

Inge Deutschron trug den gelben Stern. Aber oft hat sie den Mantel, auf dem das Symbol der Ausgrenzung aufgenäht sein musste, in einem unbeobachteten Moment in einer Tasche verschwinden lassen und eine andere, unbefleckte Jacke übergezogen. Sie wollte sich nicht beugen.

Am 15. Januar 1943 gingen Mutter und Tochter in den Untergrund. Sie fanden Hilfe bei alten Genossen wie bei völlig Unbekannten, mussten immer wieder das Quartier wechseln. Otto Weidt, Chef einer Blindenwerkstatt nahe dem Hackeschen Markt, die zum Rettungsort vieler Verfolgter wird, besorgte für Inge falsche Papiere und ließ sie illegal in seiner Werkstatt arbeiten.

Es waren nicht unbedingt die Wohlhabenden, die in höchster Not zur Seite stehen. Oft kam die Unterstützung aus kleinsten Verhältnissen. Sie einte der ganz private Widerstand ­gegen Hitler. Als das Kriegsende nahte, waren die Deutschkrons in einer Hütte in Potsdam untergetaucht, die Vermieterin wusste nicht, dass sie Juden sind.

Mit 80 Jahren nach Berlin zurück

Inge Deutschkron hat bald nach der Befreiung Deutschland verlassen, zunächst als Sekretärin in London gearbeitet, schließlich ab Ende der 1950er Jahre als Korrespondentin für das israelische Blatt Ma’ariv aus Bonn berichtet. 1972 zog sie nach Tel Aviv, auch aus Verärgerung über die antisemitischen Tendenzen in der 68er-Bewegung.

Aber Berlin hat Inge Deutschkron niemals losgelassen. 2001 ging sie, schon bald 80 Jahre alt, endgültig in die alte Heimatstadt zurück. Es folgte das Gegenteil eines Rentnerinnendaseins im Ohrensessel: Ihre Auftritte vor Schulkassen und in Gedenkveranstaltungen sind unzählbar, so wie ihr zähes Engagement für die Bewahrung der Erinnerung an die NS-Verfolgung. 2013 hielt Deutschkron die Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag.

Die Blindenwerkstatt Otto Weidt ist dank Inge Deutschkrons Engagement heute eine authentische Gedenkstätte. Besucher können das Versteck betreten, in dem sich eine Familie lange vor den Nazis verbarg – und im Oktober 1943 doch entdeckt, deportiert und ermordet wurde.

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